Julian Nagelsmann ist ein begabter Erzähler, aber eine pointierte Geschichte zu seinem aktuellen Aufgebot hatte der Bundestrainer nicht geplant. Leroy Sané sollte zunächst nicht dabei sein, als sich die deutsche Nationalmannschaft am Montag traf, um sich auf die Länderspiele am Samstag gegen Bosnien-Herzegowina und am Dienstag darauf in Ungarn vorzubereiten. Sané, hatte Nagelsmann bei der Bekanntgabe des Kaders in der vergangenen Woche noch erklärt, brauche „nach seiner Pause noch mehr Spielpraxis und Rhythmus“.
Am Sonntag stand dann allerdings fest, dass Deniz Undav vom VfB Stuttgart mit einer Oberschenkelverletzung ausfällt, Sané wurde nachträglich nominiert, zum ersten Mal seit der Europameisterschaft im Sommer. Und mit der Anwesenheit des Flügelspielers vom FC Bayern als nachrückende Ergänzung lässt sich nun besonders anschaulich erzählen, was für ein Länderspieljahr für den DFB mit den kommenden beiden Partien endet.
Es ist ein Jahr her, dass Deutschland im November 2023 gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) verlor und einer düsteren Zukunft entgegenzublicken schien. Zur Erinnerung: Das waren die Spiele, in denen Nagelsmann mit Kai Havertz als sogenanntem linken Schienenspieler experimentierte – und Sané zur Symbolfigur einer überforderten Mannschaft wurde. Er rangelte sich mit seinem Gegenspieler Philipp Mwene, flog mit Rot vom Platz und wurde für drei Spiele – also weite Teile der EM-Vorbereitung – gesperrt. Es war wohl eines der letzten von vielen Indizien dafür, dass sich in der Mannschaft Grundlegendes ändern musste.
Diese Änderungen und die Folgen sind hinlänglich bekannt. Nagelsmann hat ein neues, etwas einfacheres System (ohne Stürmer als Schienenspieler) etabliert und eine neue Hierarchie geschaffen. Das führte zunächst zur erfolgreichen EM und auch danach, trotz zahlreicher Rücktritte etablierter Spieler, zu erfolgreichen Auftritten, insgesamt zu neun Siegen, drei Unentschieden und nur einer Niederlage 2024. Und es führte zu einer veränderten Wahrnehmung der Nationalmannschaft, von innen und außen.
Was die Innensicht angeht, erzählte Nagelsmann bei einer Pressekonferenz auf dem DFB-Campus in Frankfurt am Montag, sei es noch vor einem Jahr wohl so gewesen, dass ihm angeschlagene Spieler abgesagt hätten: „Vor einem Jahr hätten sie angerufen und gesagt, sie können nicht.“ Diesmal sind auch viele aus dem 23-Mann-Kader nicht bei allerbester Gesundheit, von neun Angeschlagenen sprach Nagelsmann, aber es seien „trotzdem alle da“. So groß sei die Lust, mit dem Nationalteam zu trainieren und zu spielen.
Was die Außenwahrnehmung angeht, hätten vor einem Jahr zwei Spiele mit dem Ziel, den Gruppensieg in der Nations League zu sichern, womöglich nicht mehr als gelangweiltes Schulterzucken beim Publikum bewirkt. Nun gibt es auch auf solche Partien Vorfreude. Die Tickets für das Spiel in Freiburg am Samstag waren jedenfalls binnen 45 Minuten vergriffen. „Die Freude konservieren und mitnehmen über den Jahreswechsel“, auch darum gehe es, sagte Nagelsmann.
Dass Sané sein Potenzial zeigt? „Kann leider kein anderer für ihn erledigen“, sagt Nagelsmann
Am Beispiel Sané bedeuten die Entwicklungen des vergangenen Jahres, dass sich seine Rolle im Nationalteam ziemlich grundlegend verändert hat. Im November 2023 war er einer der wichtigsten Akteure, was auch mit seiner Form in München zu tun hatte. Unter Thomas Tuchel spielte er eine überragende Hinrunde, schien die seit Jahren riesigen Erwartungen in ihn tatsächlich zu erfüllen.
Was folgte, waren zwar noch ein paar weitere gute Spiele für die Bayern während einer bisweilen ins Chaotische abdriftenden Saison, aber bald auch Verletzungsprobleme, die konstant gute Leistungen einmal mehr unmöglich machten. Im April fiel er mit einer Schambeinentzündung aus, kam trotzdem noch in der Champions League zum Einsatz und schleppte sich bis zur EM, bei der er offenbar unter Schmerzen spielte, ohne bei immerhin zwei Startelf-Einsätzen (in den K.-o.-Spielen gegen Dänemark und Spanien) zu überzeugen. Dann ließ er sich operieren.
Beim FC Bayern bekam er im Sommer durch den Zugang von Flügelspieler Michael Olise neue Konkurrenz. Sané fehlte in den ersten Wochen der Saison im Kader, wurde wochenlang nur eingewechselt. Im DFB-Pokalspiel bei Mainz 05 Ende Oktober stand er zum ersten Mal unter dem neuen Trainer Vincent Kompany in der Startelf. In der vergangenen Woche zeigte er erstmals so richtig seine Klasse, vor allem nach seiner Einwechslung beim 1:0 gegen Benfica. Sané schoss aufs Tor, wenn auch ohne zu treffen, er lief den Verteidigern davon, bereitete das Tor vor, wurde von Kompany gelobt.
Einerseits ist es ein nachvollziehbarer Plan des FC Bayern, bei der Vielzahl an Spielen vier hochkarätige Flügelspieler im Kader zu haben, neben Sané und Olise noch Serge Gnabry und Kingsley Coman. Sané tut bei seiner Verletzungsgeschichte etwas Schonung zwischendurch sicher nicht schlecht. Andererseits dürfte es seinen Ansprüchen nicht gerecht werden, nur einer unter Vieren für seine Position zu sein – und ob sich der FC Bayern diesen Luxus weiter leisten will, ist derzeit offen. Sanés Vertrag endet 2025.
Im Nationalteam ist er spätestens seit der EM auch vorerst nicht mehr der Spieler, von dessen Form die Offensive abhängt. Das sind der gerade in München so überragende Jamal Musiala und Florian Wirtz, beide 21. Sané, bald 29 und einer der erfahrensten Nationalspieler, ist einer der Konkurrenten um die dritte Position in der Offensivreihe hinter einer Spitze. Es ist also im Grunde wie so oft in seiner Karriere: Er muss sich nun beweisen. Sané, sagte Nagelsmann, sei „einer der besten Spieler, die wir in Deutschland haben, wenn er das Potenzial auf den Platz bringt.“ Doch: „Am Ende liegt es an ihm, das auch zu zeigen. Das kann leider kein anderer für ihn erledigen, das muss er selber machen.“ Nagelsmann sagte aber auch: „Ich bin guter Dinge, dass er das auch machen wird.“