Leon Goretzka: Leon, der Vollprofi

Man musste genau hinschauen, um zu erkennen, ob Leon Goretzka in der zurückliegenden langen, schweren Zeit wenigstens ein Mal die Contenance verlor. Bei der 1:4-Niederlage in Barcelona im Oktober vielleicht, da wurde er eingewechselt, als das Spiel längst verloren war. Keine würdige Aufgabe für einen Champions-League-Sieger, weshalb seine Mundwinkel leicht nach unten zu zeigen schienen. In der 90. Minute sah er wegen eines rüden, unmotivierten Tritts die Gelbe Karte. In diesen Minuten schien sein Frust kurz sichtbar zu sein. Würde er nun Lust und Nerven verlieren?   

Goretzka gewann seinen Langmut zurück, bestand alle Leidensprüfungen, blieb der superloyale und resiliente Sportsmann. Mätzchen, die man von Fußballprofis in allerlei Formen kennt, sind von ihm nicht überliefert. 

Dabei hätte es Anlässe zum Stänkern gegeben. Selten hat ein Spieler mit solchen Verdiensten solche Rückschläge, Demütigungen und Ungerechtigkeiten erfahren. Doch Leon, der Vollprofi, ertrug sie alle. Jetzt ist er wieder da und wird zu Recht dafür gefeiert.  

Lange verlief seine Karriere gradlinig. Mit dem FC Bayern gewann er 2020 die Champions League, für Deutschland spielte er in allen Jugendmannschaften, auch bei Olympia 2016 und im Confed Cup 2017. Goretzka war immer dabei in der Nationalelf. Und weil er als einer der wenigen deutschen Kicker der Gegenwart über gesellschaftliche Themen nachdenkt, war er eine natürliche Option für die Nachfolge von Manuel Neuer als Kapitän.  

Doch vor einem Jahr galt er als Auslaufmodell. Das war nicht auf spezielle Vorfälle oder Leistungstiefs zurückzuführen. Bloß waren die sportlichen Führungskräfte bei den Bayern und beim DFB mit seiner Entwicklung unzufrieden. Statt zur Weltklasse aufzusteigen, stagnierte er. Das lag nicht nur an Verletzungen.  

Sie reagierten hart. Thomas Tuchel wollte ihn verkaufen lassen. Julian Nagelsmann strich ihn aus dem Kader. Vincent Kompany setzte ihn auf die Bank, Max Eberl stützte ihn nicht. Bis in den Herbst standen alle Zeichen auf Abschied aus München. Über die Nationalmannschaft sprach man da schon gar nicht mehr.   

Doch seit einiger Zeit spielt er wieder für die Bayern. Zunächst weil seine Konkurrenz verletzt ausfiel, inzwischen weil er sich behauptet hat. Und am Donnerstag köpfte er das Siegtor und wurde zum Helden von Mailand, nachdem ihn Nagelsmann überraschenderweise zurückgeholt und aufgestellt hatte. 

Klar, es war nur das Hinspiel, es ist nur die Nations League, aber ab sofort ist Goretzka wieder ein Kandidat für die umkämpften Plätze im Mittelfeld – in der Nationalelf und damit auch in München.

Ein guter Gewinner ist er auch noch

„Er hat bewiesen, dass es sich lohnt, Täler zu durchschreiten und sich aus Diskussionen rauszuhalten. Das war der cleverste Move von ihm“, sagte Nagelsmann nach dem Sieg in Italien. Er bescheinigte ihm ein „Top-Comeback“. Was freilich auch die Frage nahelegt, ob es ein Fehler des Bundestrainers war, ihn nicht für die Heim-EM nominiert zu haben. Goretzka habe damals „der Flow“ gefehlt, sagte Nagelsmann nun in Mailand. 

Die Nichtnominierung war die brutalste aller Anti-Goretzka-Entscheidungen. Nagelsmann baute seine Mannschaft um Toni Kroos und glaubte offenbar, dass zu viele Persönlichkeiten dem Erfolg abträglich sind. Während sich seine Mitspieler im Trainingslager auf den Höhepunkt ihrer Karriere vorbereiteten, saß Goretzka mit traurigem Gesicht im Stadion des VfL Bochum und drückte seinem Jugendverein in der Relegation die Daumen.  

Ein guter Gewinner ist er auch noch. Nicht mal einen Ton der Genugtuung erlaubte er sich nun nach seinem Tor gegen Italien. Beim Jubeln verzichtete er auf die Schweigegeste mit dem Zeigefinger oder Ähnliches, um dem Trainer eine Botschaft zu senden. „Das ist, das muss ich zugeben, eine ganz runde Geschichte“, sagte er der ARD nach dem Spiel.


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