Wenn Ernst Leitz das wüsste. Ein paar Schritte neben der Maschine mit dem rotierenden Diamanten riecht es nach Zwiebeln und Knoblauch. Ob dort jemand kocht? Mitnichten. Der Geruch entströmt vielmehr einem großen Behälter. Die weiße Masse darin sieht aus wie Frischkäse. Sie besteht aber aus Glasabfall und einer Emulsion. Mithilfe dieser Flüssigkeit schneidet eine Kunststofffräse eine Rohlinse aus hochbrechendem Glas für eine Brille zurecht, bevor ein Diamant für den Feinschliff sorgt und das Glas später mit einem Kunststoff poliert wird. 45 Sekunden arbeitet die Fräse, wie Jörg Bauer sagt. Währenddessen fällt die für die Müllverbrennung bestimmte weiße Masse an, Küchenduft inklusive.
Das alles geschieht in den Räumen von Leica Eyecare, der jüngsten Tochtergesellschaft von Leica Camera in Wetzlar. Jörg Bauer führt die Geschäfte des Betriebs in Heuchelheim. Der Nachbarort von Gießen liegt nur wenige Autominuten entfernt von dem Campus des Kameraherstellers mit der Zentrale, deren Form an einen aus der Spule gezogenen Kleinbildfilm erinnert. Nebenan liegt das nach Unternehmens-Urvater Ernst Leitz benannte Museum nebst Hotel.
Die Fabrik der Leica Eyecare GmbH wirkt erheblich schmuckloser. Die Produktion ihres Start-ups hat die Muttergesellschaft in einem von Handel und Gewerbe umgebenen Zweckbau untergebracht. Bauer preist den Standort. Heuchelheim liegt nicht nur nah am Gießener Ring, von dem aus die Autobahnen nach Kassel und Frankfurt und die B 49 nach Limburg abzweigen. Die hinter dem Verwaltungsgebäude liegende Halle für die Fertigung bietet mehr als genug Platz für die Maschinenstraße. Falls nötig, könnte Bauer auf den 1500 Quadratmetern Gesamtfläche weitere Maschinen aufstellen lassen. Das wird schon auf den ersten Blick deutlich.
„Start-up-Charakter“ bei vollautomatischem Ablauf
Seit dem Sommer vergangenen Jahres stellt der Betrieb dort Brillengläser her. Er zählt 25 Beschäftigte, 15 von ihnen haben direkt mit dem Produkt zu tun. „Das passt zum Start-up-Charakter“, meint Bauer. Anders gesagt: In der Produktion läuft viel ohne menschliches Zutun ab. „70 Prozent vollautomatisch, 30 Prozent manuell“, rechnet der Geschäftsführer vor, während er die Produktion auf einem Rundgang mit viel Liebe fürs Detail erläutert. Die Fehlerquelle Mensch minimieren – so lautet das Ziel.
Doch ohne Menschen geht es nicht. Zum Beispiel nicht ohne den Mitarbeiter, den Bauer freundlich grüßt, der zwischen Maschinen hin und her läuft und auf dem Computer Aufträge prüft und abarbeitet. Der Mann eilt über einen wie frisch gewischt wirkenden Boden. Mit Zettelwirtschaft kommt er nicht in Berührung. „Wir haben hier eine papierlose Fertigung“, hebt Bauer hervor und sagt zur Begründung: „Das macht den Prozess schneller.“ Die Aufträge bekommt die Fabrik der Leica Eyecare GmbH über eine eigene digitale Plattform herein.
Ob aus China, Thailand oder Wetzlar. Bauer greift sich einen flachen Karton, öffnet ihn und holt ein etwa ein Zentimeter dickes Glas heraus. Früher sei für jeden Auftrag ein besonderes Rohglas notwendig gewesen. Doch das sei vorbei. Die von seinem Betrieb genutzten Maschinen schneiden in jeden von einem Partnerunternehmen in Thailand gelieferten Standardrohling die vom jeweiligen Brillenträger benötigten Werte hinein, wie er sagt. Das bedingt exakte Werte. Für sie muss der Augenoptiker sorgen, wie Bauer sagt: „Wir können nur perfekte Gläser machen, wenn der Augenoptiker gute Arbeit leistet.“
Perfekte Gläser zu liefern lautet der Anspruch. Schließlich verpflichtet der Name dazu: Leica steht für Premium. Insofern arbeitet die Eyecare-Tochter nur mit dem Fachhandel zusammen. Welche Optiker das sind, ist auf der Internetseite von Leica Eyecare nachzulesen. Und wie steht es mit Ketten? Bauer schüttelt den Kopf. Aus Heuchelheim komme kein Massenprodukt für Brillen. Jeden Auftrag arbeite die Fabrik individuell ab. In der Wirtschaft ist Zeit immer auch Geld.
Ein Brillenglas als Statussymbol
Aber der Geschäftsführer sagt: „Wir lassen uns Zeit.“ Wobei der Betrieb innerhalb von fünf Tagen nach dem Erhalt des Auftrags ausliefere. Jedes Mal fügt er einen Brillenpass an mit allerlei Nummern darauf. Die Fabrik stelle ein Medizinprodukt her. Die Nummern zeigten an, wo und wann es hergestellt worden sei. So könne der Kunde das auch Jahre nach der Lieferung noch zurückverfolgen lassen.
Die Herkunft ist einem Brillenglas auch anzusehen. Allerdings braucht es dazu ein recht gutes Auge. Unter der Schicht, mit der die Brille entspiegelt wird, bringt eine Maschine ein geschwungenes L auf dem Glas in einer Ecke auf: das Logo des Herstellers. Das geschieht mit Gas, wie Bauer sagt. Für so manchen Kunden sei dieses Logo eine Art Statussymbol. Das gelte auch und gerade für Asiaten.
Die Geräte und Anlagen in der Halle haben Unternehmen aus Mittelhessen geliefert. Allen voran Opto-Tech, eine auf Optikmaschinen spezialisierte Tochtergesellschaft des in Heuchelheim sitzenden Technologiekonzerns Schunk, und der 1350 Beschäftigte zählende und international tätige Mittelständler Bender in Grünberg, der Lösungen rund um die Sicherheit elektrischer Anlagen herstellt. Insofern ist Leica Eyecare ein in vielerlei Hinsicht mittelhessischer Betrieb.
Am Ende der Produktion ist eine Tätigkeit ganz und gar Frauen vorbehalten. Und zwar an jener Stelle, an der Gläser in einem Tauchbad die vom Kunden gewünschte Farbe erhalten. Das geschieht alles von Hand: „Da gibt es keine Automatisierung“, sagt Bauer. Und warum dürfen hier nur Frauen ran? „Männer haben kein Farbgefühl“, sagt er trocken und lächelt. Ob Urvater Ernst Leitz das gewusst hat?