
DIE ZEIT: Herr Mensching, László Krasznahorkais Roman Herscht 07769 spielt in Thüringen. Wie haben Sie das Buch entdeckt?
Steffen Mensching: Dabei spielte die ZEIT eine gewisse Rolle. Mein Chefdramaturg Michael Kliefert las damals eine Rezension bei Ihnen. Als wir dann im Roman die präzisen lokalen Bezüge entdeckten, war klar: Das müssen wir machen!
ZEIT: Welche Bezüge meinen Sie?
Mensching: Der Realort Kahla, im Buch Kana, liegt in der Nähe, Rudolstadt wird direkt erwähnt. Dann die Bundesstraße 88, die vielen Leute aus der Naziszene. Der Autor muss vor Ort sehr genau recherchiert haben. Er kennt sich aus, was Biersorten angeht, die jüngere Sozialgeschichte, den Betrieb des „Grillhäusels“, auch Kahla ist ziemlich genau beschrieben. Deswegen verwunderte mich anderes umso mehr. Es wird in Herscht 07769 viel Bockwurst gegessen, kaum Bratwurst. Vielleicht ein Übersetzungsfehler.
ZEIT: Das wäre ja geradezu dramatisch, wenn die Übersetzung ausgerechnet da schwächelt!
Mensching: Die Übersetzung ist sonst absolut großartig! Aber ja, sollte das ein Fehler sein, wäre er fatal, hier geht es ja um die wichtigste gastronomische Errungenschaft Thüringens.
ZEIT: Haben Sie dann mit dem Autor direkt Kontakt aufgenommen?
Mensching: Wir haben uns an den Verlag gewendet, da hieß es zunächst, Krasznahorkai wolle lieber keine Fassung fürs Theater. Das Okay haben wir am Ende auch nur bekommen, weil kein anderes Haus den Stoff aufgreifen wollte. Ob Krasznahorkai unsere Bühnenfassung gelesen hat, weiß ich gar nicht. Er wollte zur Premiere kommen, musste aber wegen einer Corona-Erkrankung leider absagen.
ZEIT: Herscht 07769 ist ein komplexer Roman, teils undurchsichtig, der Text besteht aus einem einzigen Satz, der über 400 Seiten läuft. Wie inszeniert man so einen Text?
Mensching: Wir haben wirklich lange daran gearbeitet und auf einzelne Szenen mit begrenztem Personal gesetzt. Den ganzen Kosmos des Romans hätten wir unmöglich auf die Bühne bringen können.
ZEIT: Worauf haben Sie sich konzentriert?
Mensching: Es gibt da einen autistischen, einzelgängerischen Hünen, der in die Einflusssphäre einer Nazigruppe unter dem sogenannten Boss gerät. Dem Boss gehört „Alles wird rein“, eine Reinigungsfirma, die Graffiti entfernt, er ist ein brutaler Mann, aber auch der größte Liebhaber der Musik von Johann Sebastian Bach. Also völkische Brutalität gepaart mit Nähe zur Klassik. Bei Krasznahorkai ist das ein intellektueller Strom der Reflexion, handwerklich brillant, eine oszillierende Mischung von Alltagssprache, Musiktheorie und magischem Realismus. Und inhaltlich fühlten wir uns da einfach deutlich erkannt.
ZEIT: Inwiefern?
Mensching: Wir fühlten uns erkannt in der Sozialstruktur einer Kleinstadt, in der Art und Weise, wie so eine Kleinstadt funktioniert. Wie Gerüchte transportiert werden. Wie nah man sich ist. Diese Mischung aus großer Nähe, Empathie – und dem Sich-Einmischen in die Verhältnisse anderer: wenig Anonymität, Kleinstadtgeschwätz, auch Vorurteile gegenüber Leuten, die anders auftreten. In dem Buch gibt es zum Beispiel zwei Brasilianer, die eine Tankstelle betreiben. Und was machen die lokalen Nazigrößen? Sie loben den Kaffee und bleiben trotzdem bei ihren rassistischen Vorurteilen.
ZEIT: Wie erklären Sie sich, dass ein Weltautor wie Krasznahorkai sich gesagt hat, mein nächstes Buch, ja, das spielt im Saaletal!
Mensching: Ich glaube, es war für ihn auch ein Versuch, mit den Verhältnissen in Ungarn umzugehen. Krasznahorkai setzt sich natürlich damit auseinander, was in seiner Heimat passiert, das geht manchmal leichter, auch souveräner, wenn man es mit einem gewissen Abstand tut. Die Liebe zu Bach ist beim Autor außerdem vorhanden, er hat eh eine große Affinität zu Deutschland und hier auch gelebt.
ZEIT: Wie hat das Publikum das Stück 2022 aufgenommen? Kann ein Theater wie Ihres mit so einem Stoff ein Gespräch anstiften?
Mensching: Wir haben Herscht 07769 etwa zehnmal gespielt, das ist guter Durchschnitt, aber für den Aufwand, den wir hatten, doch zu wenig. Die Resonanz war gut, aber nicht befriedigend. Es gab große Begeisterung – aber auch deutliche Aversionen. Das mit den Nazis, das wollen manche Leute nicht sehen. Gar nicht mal, weil sie sich ertappt fühlen, sondern weil sie denken, das ist nicht die Aufgabe von Theater, kritisch auf die Region zu schauen.