Langeoog zu jeder Jahreszeit

Dienstagabend auf Langeoog. Das bedeutet „Dünensingen“. Seit Jahrzehnten Tradition auf der drittgrößten der ostfriesischen Inseln und kein bisschen antiquiert. Unterhalb des Wasserturms im Dünental probt bereits eine dreiköpfige Combo in weißen Hosen und blauen Fischerhemden mit Akkordeon und Gitarre. Ausgelassen schmettern und schunkeln rund 300 sangesfreudige Urlauber eine Stunde lang nach dem „Langeooger Liederbuch“. Über 40 Seemanns- und Volkslieder sind darin abgedruckt. Nur beim Schlussakkord wird es ein bisschen sentimental. Der letzte Song ist gewöhnlich der berühmtesten Bewohnerin gewidmet. Fast 30 Jahre verbrachte die Sängerin und Schauspielerin Lale Andersen die Sommermonate auf dem Eiland. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie durch den Schlager „Lili Marleen“ berühmt. Und das Lied durch sie. Es thematisiert das Leid eines durch den Krieg getrennten Paares. Bis heute ist die Interpretin auf der Insel unvergessen. 1972 starb sie in Wien. Doch die Urne wurde unweit ihres einstigen Wohnhauses auf dem Dünenfriedhof beigesetzt. Seit ihrem 100. Geburtstag im Jahr 2005 steht unterhalb des Wasserturms ein Bronzedenkmal: Lale Andersen lehnt an der von ihr besungenen „Laterne“.

Das Hauptverkehrsmittel auf der autofreien (Ausnahme Feuerwehr und Rettungswagen) „langen Insel“ ist das Fahrrad. Jegliche Fracht wird mit Elektrokarren transportiert. Einen Überblick über die Gegend verschaffe ich mir allerdings erst einmal zu Fuß und besteige den 1909 errichteten Wasserturm auf den Kaapdünen. Mehr als 80 Jahre lang war er für den richtigen Wasserdruck in den Häusern verantwortlich. Inzwischen ist er Aussichtspunkt und Wahrzeichen. Im Erdgeschoss befindet sich eine kleine Ausstellung über seine Erbauung und Nutzung. Genug der Technik. Runter ans Meer. Zwischen duftenden rosafarbenen Kartoffelrosen schlendere ich auf der Höhenpromenade entlang. Von dort zweigen immer wieder Wege zum feinsandigen Strand ab. Er umgibt die Insel auf 14 Kilometern. Den azurblauen Himmel ziert nicht eine einzige Wolke. Die oft steife Brise ist so schwach, dass nur sanfte Wellen an den Strand schwappen.

Langsam wird es Zeit, dass auch ich mich aufs Rad schwinge. Hinter dem Inselwäldchen erreiche ich den Flinthörn­deich im Südwesten. Nationalpark- und Wattführerin Fiona Wettstein ist bereits damit beschäftigt, ein Spektiv einzurichten und Ferngläser an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Vogelbeobachtungstour zu verteilen. „Zwei Drittel der Inselfläche gehören zum Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer“, informiert sie, während über uns zwei Bussarde kreisen, die auch mit bloßem Auge gut zu erkennen sind. Gleich darauf schwebt eine Rohrweihe, ein weiterer Greifvogel, durch die Luft. „Wattenmeer und Salzwiesen sind ein ideales Nahrungs- und Rastgebiet für Zugvögel zwischen Afrika und Sibirien. Hier fressen sich die Tiere Fett für ihren Weiterflug an“, erwähnt Fiona Wettstein. Der Pfad führt weiter Richtung Hafenmole. Dort spuckt das Fährschiff „Langeoog III“ gerade neue Gäste aus. Sie strömen zur nostalgischen Schmalspurbahn, die sie in den zweieinhalb Kilometer entfernten Ort transportiert. Flankiert sind die bunt lackierten Waggons von zwei feuerroten Diesellokomotiven. „Es handelt sich um einen Wendezug“, erklärt Lokführer Jens Guder: „So müssen wir nicht rangieren, sondern können bequem zwischen Hafen und Dorf hin- und herpendeln.“

Die erste Inselbahn wurde 1901 als Pferdebahn eingeweiht. 1937 brach das Dieselzeitalter an. Die derzeitigen zwei Zugeinheiten sind seit 1995 im Einsatz. Ganze sieben Minuten dauert die Reise entlang von Wiesen und Weiden bis zum Bahnhof am Ortsrand. Ich folge dem Schienenstrang zurück ins Dorf und statte der neogotischen Inselkirche und dem Heimatmuseum „Seemannshus“ einen Besuch ab. Das Gebäude ist eines der ältesten auf der Insel. „Die meisten ausgestellten Gegenstände sind Nachlässe von Einheimischen“, berichtet Christa Brodtmann vom Heimatverein: „Außergewöhnlich ist der Hebammenkoffer. Mit Hilfe seines Inhalts brachte die letzte Geburtshelferin von Langeoog bis Mitte der 1960er-Jahre Kinder auf die Welt.“

Dass Langeoog den Namen zu Recht trägt, erfahre ich auf meiner Radtour gen Osten. Zirka acht Kilometer geht es auf der einzigen Straße schnurgeradeaus durch den Nationalpark. Ringsumher nur Dünen, Salzwiesen und eine herrlich frische, jodhaltige Luft. Ziel ist die Meierei am Ostende. Seit 1930 wird sie von der Familie Falke bewirtschaftet. Längst ist sie kein Bauernhof mit Viehwirtschaft mehr, sondern ein reines Ausflugslokal für den Hunger zwischendurch. „Die Spezialität Dickmilch mit zerbröseltem Schwarzbrot und Sanddornsaft gibt es bereits in der dritten Generation“, erzählt Wirtin Dagmar Falke und serviert mir eine Schale dieser Köstlichkeit, die mich wieder fit für die Rückfahrt macht. Hinter der Jugendherberge biege ich zur Melkhörndüne ab. Mit 20 Metern ist sie die höchste Erhebung der Insel. Ich radle weiter durchs menschenleere Pirolatal, das von hohen Braundünen gesäumt ist, die eine natürliche Barriere zum vorgelagerten Strand und zur offenen Nordsee bilden und das Inseldorf vor Sturmfluten schützen.

Abschied von Langeoog am nächsten Morgen. Der farbenfrohe Zug, der mich zur Fähre bringen wird, leuchtet schon am Bahnsteig. Noch fünf Minuten bis zum Abfahrtspfiff. Langeoog – ein Sehnsuchtsort? Ganz sicher!

Die Reise wurde unterstützt von TourismusMarketing Niedersachen.