Künstliche Intelligenz, Deutscher KI-Preis, Caresyntax

Manche Dinge sind so klein, dass es kaum möglich erscheint, sie zu begreifen. Bei Caresyntax ist es eher umgekehrt: Der Ansatz dieses deutsch-amerikanischen Unternehmens ist so groß und umfassend, dass sich sein Vorhaben anfangs nur mit Mühe erschließt. Caresyntax will nichts Geringeres als die Revolutionierung der Chirurgie. 2013 gegründet, hat es zwar bisher noch keinen Wikipedia-Eintrag. Aber seit seinem Start wurden bereits zehn Millionen medizinische Operationen begleitet. Auch dafür hat Co-Gründer Björn von Siemens den Anwenderpreis des WELT-KI-Preises erhalten.

Aber ganz sicher ist die Preisverleihung auch eine Geste der Anerkennung für den weiten Weg, der noch vor ihm liegt. Denn Caresyntax steht ganz am Anfang, wie der Berliner selbst nicht müde wird zu betonen. Vor der selbst gestellten Aufgabe, die Klinikwelt zu digitalisieren. Und einen der komplexesten Vorgänge der Medizin und Wissenschaft sicherer, besser und letztendlich effizienter zu machen. In einer seiner Präsentationen zeichnet von Siemens ein drastisches Vorher-Nachher-Bild: Das erste Foto zeigt einen Operationssaal althergebrachter Ordnung, in dem offenbar kurz zuvor ein aufwändiger Eingriff ablief. Ein Kabelverhau zieht sich zwischen OP-Tisch und diversen Apparaten. Auf dem zweiten Foto dann der aufgeräumte Saal mit Caresyntax-Technik. Sauber, übersichtlich, offen. „Integriert“, wie es das Unternehmen beschreibt. Dafür steht die Akkolade, die geschweifte Klammer vor dem Firmennamen.

Der Operationssaal bereitet die OP vor

Die wahre Integration bzw. Revolution spielt sich – wie immer bei KI – unsichtbar im Hintergrund ab. Caresyntax nimmt Daten auf, veredelt sie und macht diese dem Ärzteteam zugänglich. Mehr noch: Es teilt und moderiert sie im Dialog mit den Menschen. Ein von Caresyntax integrierter Operationssaal bereitet die OP nicht nur vor, sondern spielt sie digital durch, bevor der erste Schritt erfolgt. Geht der Eingriff los, können alle Handgriffe wie bei einer virtuellen Bauanleitung am Bildschirm vorgeplant, simuliert und variiert werden. Der erste Gewinn: Es wird gespart. Wer schon einmal händeringend nach einem Facharzttermin suchte, weiß, wie notwendig das überlastete Gesundheitssystem so etwas braucht.

Das System funktioniert auch in hoch entwickelten Ländern nur unzureichend: In England, hier liegen Björn von Siemens konkrete Zahlen vor, ist ein temporärer Leerstand von 40 Prozent der Operationssäle dokumentiert – zugleich warten fünf Millionen Menschen auf eine essentielle OP. In Deutschland, wo die Situation nicht viel besser ist, kostet die OP-Minute zwischen 50 und 500 Euro. Da zählen bereits Augenblicke für die Eingabe von Geräteeinstellungen, die Suche nach einem Instrument, das Betätigen eines Schalters. Was wünscht der Patient, welche Einstellungen bevorzugt der Chirurg? Der Caresyntax-Gründer vergleicht die Wirkung seines Produkts mit der vorkonfigurierten Sitzeinstellung in modernen Autos. Doch während letztere nur bequem ist, kann die OP-KI weit mehr. Sie hat zuvor in Form eines Chatbots den Patienten umfassend befragt. Seine Anamnese-Angaben fließen beispielsweise in die Vorbereitung der Anästhesie, Medikamentierung und Zeitplanung ein.

Team und KI sind permanent im Zwiegespräch

Während der eigentlichen Operation kann jeder Schritt aufgezeichnet, identifiziert und bewertet werden. „Das ist auch im Prinzip nichts Neues“, sagt Björn von Siemens. Schon seit Jahrzehnten lassen sich Chirurgen bei der Arbeit filmen. Doch zumeist bleibt das auf die Koryphäen und die Lehroperationssäle an den Universitäten beschränkt. Und dank KI operiert man nun mit Caresyntax in Gemeinschaft: Das System steht jederzeit mit voller Aufmerksamkeit bereit. „Das ist eine Turn-by-Turn-Guidance, jeder Handgriff kann im Dialog mit der KI besprochen und bewertet werden.“ Das Team befindet sich permanent im Zwiegespräch mit dem OP-Saal.

„Das System kann auch Varianzen erkennen und quantifizieren.“ Wieder ein Vergleich mit Autofahren: Sicherheitsassistenten wie der „Lane Assist“ registrieren, wenn das Fahrzeug von der Spur abweicht, und alarmieren den Fahrer. So verhält sich auch die KI bei der OP. Ist dieses Phänomen noch normal? Wann wirkt die Narkose? Mit welchem Blutverlust ist bei diesem Schnitt zu rechnen? Caresyntax begleitet Eingriff überwiegend in der Robotik, Orthopädie, minimalinvasiven Chirurgie, Onkologie, Neurochirurgie und Herzchirurgie. Die Aufzeichnungen helfen auch noch Jahre danach: Kommt es zu Schadensersatzforderungen, weil etwas schieflief, können die Daten für die rechtliche Klärung genutzt werden. Und für weitere OPs: In vielen Partner-Kliniken darf Caresyntax die gewonnenen Daten anonym nutzen, um die KI zu trainieren. Damit lernt das System immer besser, wie die perfekte Operation abläuft. Allerdings steht der Datenschutz dem vielerorts entgegen.

Auch bei rechtlichen Konflikten nutzbar

Von Siemens: „Es ist sogar noch schlimmer: In vielen Krankenhäusern sind Daten nach ein paar Jahren ohne vorherige Genehmigung des Patienten nicht mehr verfügbar.“ Selbst wenn ein- und dieselbe Person mit einem einschlägigen Befund erneut eingeliefert wird, können die Erkenntnisse aus vorherigen Untersuchungen nicht ohne Weiteres genutzt werden.

Anders sieht es bei den Caresyntax-Datensätzen für die Einzel-OP aus. Die lassen sich auch später noch nutzen, wenn die Autorisierung erfolgt. Studenten können damit lernen, angehende Fachärzte ihre Spezialisierung vorantreiben. Und jeder Patient nachträglich die eigene Operation begutachten. „Gut, das möchte natürlich nicht jeder.“ Und möchten die Ärzte? Behagt ihnen die Vorstellung, dass jeder Huster und jedes Handabwischen zukünftig dokumentiert wird? Björn von Siemens, der seit fast zehn Jahren seine Geschäftsidee gegenüber Investoren, Klinikchefs und Chirurgen pitcht, hat dazu eine klare Meinung: „Sie sind sehr am Erfolg interessiert.“