
Mecklenburg nach der Wende, der elfjährige Matti Beck ist verschwunden. Seine Eltern haben ihn an einem kalten Winterabend Anfang des Jahres 1992 zum „Einholen“ geschickt. Doch im Supermarkt der Plattenbausiedlung auf dem Mönkeberg ist er nie angekommen.
Was kann dem Jungen auf dem Weg zum Einkaufen passiert sein? Hauptkommissar Arno Groth und sein Suchtrupp tappen im Dunkeln. Ein rechter Jugendclub, merkwürdige Runenzeichen auf Kinderhänden, „unter dem Tisch am Fenster ein Bierkasten“ – inszenierte Normalität, die einem wie Kommissar Groth auffällt.
„Groth nickt sich selbst zu. Der Mönkeberg ist voller Fassaden mit Fenstern und Balkonen. Wo Fenster sind, sind auch Augen. Irgendjemand wird Matti Beck am Abend zuvor gesehen haben.“ Doch der Mönkeberg erweist sich für die Ermittler als Festung, ein geschlossenes System.
In der einst geschätzten realsozialistischen Plattenbausiedlung stößt Groth auf verbitterte Erwachsene mit entwerteten DDR-Biografien; auf Jugendliche, die bereits im Kindesalter desillusioniert sind, mit „diffuser Wut auf alles“.
Susanne Tägder: „Die Farbe des Schattens“. Tropen Verlag, Berlin 2025, 336 Seiten, 17 Euro
Der renitente Trinker, ein Mörder?
Als der kleine Matti schließlich ermordet aufgefunden wird, richtet sich der Verdacht bald auf einen Außenseiter. Einen Hilfshauswart, Alkoholiker wie viele hier, nach der Wende abgerutscht, in einem leer stehenden Gebäude hausend. Er befindet sich im Clinch mit der rechten Jugendgruppe. Doch der renitente Trinker, ein Mörder?
Hauptkommissar Groth ist nicht überzeugt. Die anderen schon. Groth recherchiert auf eigene Faust weiter, zieht Verbindungen zu einem Cold Case, einem unaufgeklärten Mord aus der DDR. 1986 verschwand am Mönkeberg schon einmal ein Junge. Und wurde auf ähnliche Weise wie Matti getötet.
Groth reaktiviert einen Ex-Kollegen. Der hatte, da er sein partiell unrechtmäßiges Handeln in der DDR einräumte, 1991 den Polizeidienst verlassen müssen. Ehrliche mussten vielfach gehen, Leugner blieben – da mag etwas dran sein, verallgemeinern sollte man es dennoch besser nicht.
Wie bereits in dem ersten Kriminalroman rund um Ermittler Groth verbindet die Autorin in „Die Farbe des Schattens“ einen Altfall aus der DDR mit einem neuen aus der Nachwendezeit. Vorlage ist erneut ein real geschehenes Verbrechen, das sie frei literarisch interpretiert. Tägders Sprache ist bildreich, die Beschreibungen der 1968 geborenen gelernten Juristin sind präzise. Ihre Eltern stammen aus dem mecklenburgischen Neubrandenburg und emigrierten vor dem Mauerbau 1960 in den Westen.
Neustart im Osten
Mit Arno Groth hat die Autorin einen Ermittler geschaffen, dem Osten wie Westen gleichermaßen vertraut und unvertraut scheinen. Ein wenig fremdelt er mit beiden Welten. Er stammt aus Mecklenburg, verließ die DDR, ging in den Westen und arbeitete bei der Kripo in Hamburg, bevor ihn ein privates Unglück aus der Bahn warf. Nach der „Wende“ wird Groth zurück in seine alte ostdeutsche Heimatstadt geschickt und versucht als leitender Kripobeamter den Neustart.
Durch die Perspektive ihres ost-westlichen Hybrids gelang Tägder in ihrem ersten Groth-Roman „Das Schweigen des Wassers“ ein außergewöhnlicher Nachwende-Kriminalroman. Das Nichtidentische ihres gebrochenen Helden stand in scharfem Kontrast zur mitunter aufblitzenden Überheblichkeit westdeutschen Personals, aber auch zu jenem Phänomen, das der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk als „Ostdeutschtümelei“ bezeichnet (etwa in dem Gesprächsbuch mit Bodo Ramelow „Die neue Mauer“, Verlag C. H. Beck, 2025).
Tägder hatte in ihrem ersten Groth-Roman die Hauptfigur mit Einfühlungsvermögen, aber auch deutlicher Distanz zur einst heimatlichen Umgebung ausgestattet. So entwickelte sie ein spannendes Gesellschaftsszenario und einen differenzierten Blick auf die frühe Nachwendezeit. In „Die Farbe des Schattens“ nimmt der Mut zu Ambivalenz und Abgrenzung allerdings etwas ab.
Der Zurückgekehrte passt sich seiner Umgebung, vor der er einmal geflohen war, habituell doch stärker an. Aber die affirmative Inszenierung eines Rendezvous bei Erbsensuppe und Rotwein sollte literarisch vielleicht besser vermieden werden. Bleibt zu hoffen, dass Tägders Hauptkommissar in Band drei zu alter Schärfe zurückfindet.