Krefeld: Selin Oruz und die Herausforderungen des Hockeysports – Sport

Die große Prüfung ist ein bisschen ernüchternd ausgefallen. Die im Umbruch befindlichen deutschen Hockeyspielerinnen hatten sich im zweiten Gruppenspiel bei der Europameisterschaft im Mönchengladbacher Hockeypark ultimativ vergewissern wollen, wie weit sie von der Weltspitze noch entfernt sind. Und dann haben sie gegen den Europameister, Weltmeister und Olympiasieger Niederlande mit 1:5 verloren. „Eine junge Mannschaft wie wir kann an so einem Spiel wachsen“, hat Selin Oruz hinterher gesagt. Die 28 Jahre alte Krefelderin, nur 20 Kilometer von Mönchengladbach entfernt geboren und aufgewachsen, ist unter den derzeit erfahrensten Nationalspielerinnen die mit den aktuell meisten Länderspielen (172).

Mit Prüfungen hat Oruz sonst keine Probleme. Im Gegenteil. Während ihrer zwölfjährigen Karriere in der Nationalmannschaft ist sie nebenbei Ärztin geworden, oder besser gesagt: Neben ihrem Studium der Medizin in Düsseldorf seit 2015, der Promotion und der derzeit laufenden Weiterbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin in der Kinderklinik Krefeld hat Dr. Selin Oruz eine blitzsaubere Karriere als Hockey-Nationalspielerin hingelegt. Sie hat 2016 Olympia-Bronze, 2019 und 2021 EM-Silber sowie 2015 und 2023 EM-Bronze gewonnen.

Wenige Wochen nachdem das deutsche Frauenteam bei der EM 2013 in Belgien letztmals einen Titel geholt hatte, bestritt Oruz im Alter von 16 Jahren ihr erstes A-Länderspiel. Mit einem Titel hat es für die deutschen Frauen in den zwölf Jahren seither nicht mehr geklappt, und wie das Spiel gegen die übermächtigen Niederländerinnen angedeutet hat, wird es auch bei der EM in Mönchengladbach schwierig mit Gold. Unabhängig vom Ausgang des Turniers wird Oruz ihre Nationalmannschaftskarriere anschließend sehr wahrscheinlich beenden. Das hat auch mit der Doppelbelastung von Beruf und Sport zu tun.

Oruz spielt seit ihrem vierten Lebensjahr Hockey. Auch ihr Bruder Timur war Nationalspieler, hat seine Karriere aber bereits beendet. Hockey war für Selin Oruz immer ein wichtiger Ausgleich und fast schon eine ideale Ergänzung zu all den Anforderungen, die das Leben so mit sich bringt. Beides, die Anforderungen des Berufslebens und des Sports, hat sie auf höchstem Niveau gemeistert. „Olympia-Bronze war eine außergewöhnliche Leistung“, sagt sie. „Ein weiterer Erfolg wäre natürlich wünschenswert gewesen, aber so läuft es im Sport nun mal nicht. Wir haben über Jahre hinweg tolle Leistungen gezeigt, die große Belohnung ist letztlich aber leider ausgeblieben.“ Sie blicke auf ihre Karriere in der Nationalmannschaft „mit einem lachenden und einem weinenden Auge“.

Das Spiel gegen die Niederländerinnen war „ernüchternd“, aber „lehrreich“

Allzu viel Zeit, darüber zu grübeln, wird die Krefelderin, die für den Düsseldorfer HC auch weiterhin in der Bundesliga spielen wird, kaum haben. Ihre Zukunft liegt in der Medizin, und weil man sich als voll Berufstätige so viele sportliche Auszeiten wie bisher nicht mehr leisten kann, sieht sie sich geradezu gezwungen, ihre Karriere in der Nationalmannschaft zu beenden. „Diese Entscheidung wird mir gewissermaßen abgenommen“, sagt sie. „Bis auf die lokale Förderung durch den Heimatverein steht man alleine da und beendet seine internationale Karriere deutlich verfrüht, was sich erheblich auf die Qualität der Nationalmannschaften auswirkt.“

Und so könnte es sein, dass Selin Oruz, jahrelang ein role model für die duale Karriere im Spitzensport, nun nur noch drei Länderspiele bestreitet: an diesem Mittwoch im abschließenden Gruppenspiel gegen Irland (20 Uhr, kostenlos bei magentasport.de) sowie im Erfolgsfall das Halbfinale am Freitag sowie das kleine oder das große Finale am Sonntag.

Vor zwei Jahren, als die EM auch schon in Mönchengladbach ausgetragen wurde, holte das deutsche Frauenteam Bronze. Seit Kurzem heißt die Bundestrainerin Janneke Schopman. Die 48 Jahre alte Niederländerin lehrt einen schnelleren Spielstil und hatte den deutschen Spielerinnen die Hoffnung mitgebracht, die Lücke zur niederländischen Übermannschaft verkleinern zu können. Doch davon war am Montagabend vor allem im ersten Viertel (0:3) noch zu wenig zu sehen. Anschließend hat sich die junge deutsche Mannschaft immerhin so gut gewehrt, dass sie das Spiel phasenweise ausgeglichen gestalten konnte. „Das Ergebnis war ernüchternd, das Spiel selbst aber auch lehrreich“, sagt Oruz, deren Privatleben ebenfalls vom Sport geprägt ist, denn ihr Lebensgefährte Dennis da Silva Felix ist seit Beginn der neuen Saison Cheftrainer beim ostwestfälischen Fußball-Regionalligisten SV Rödinghausen.

Das Ziel für die verbleibenden drei EM-Spiele ist für Oruz klar: „Wir wollen das Halbfinale erreichen, jedes Spiel maximal angehen und jedes Spiel gewinnen.“ In der aktuellen Weltrangliste stehen die Niederländerinnen auf Platz eins, die Belgierinnen als möglicher deutscher Halbfinalgegner auf Platz drei und die deutschen Hockeyfrauen auf Platz sechs. Von der Weltspitze sind sie, um es rein statistisch zu formulieren, derzeit fünf Plätze entfernt.