In seinem neuen Buch „Fehldiagnose“ kritisiert der deutsche Ökonom Tom Krebs die weitverbreitete Marktgläubigkeit seiner Kollegen. Im Interview erkärt er, was aus seiner Sicht in der Energiepolitik schiefgelaufen ist und warum die aktuellen Wachstumsprobleme auch Fehleinschätzungen seiner Zunft geschuldet sind.
Sie rechnen in Ihrem neuen Buch „Fehldiagnose“ massiv mit ihrer eigenen Zunft ab: den Ökonomen in Deutschland, oder genauer: den marktliberalen Ökonomen, die in der Mehrzahl sein sollen. Was hat Ihnen der ökonomische Mainstream angetan?
Tom Krebs: Gar nichts. Mich hat nur überrascht, wie stark eine naive Marktgläubigkeit noch immer die ökonomischen Analysen und damit die Politik dieses Landes beeinflusst. Aber, zugegeben: Man sollte sich nicht zu sehr am Titel festhalten. Der ist bewusst überspitzt formuliert. Ich nehme im Buch auch einige Abstufungen vor.
Welche Reaktionen sind Ihnen von Ihren Kollegen entgegengeschlagen?
Viel Zuspruch, und ein bisschen Schockstarre bei den Kritisierten. Sie versuchen es scheinbar auszusitzen und zum Tagesgeschäft überzugehen. Aber wahrscheinlich wird die Reaktion noch kommen.
Rüdiger Bachmann hat Sie als „vormaligen Kollegen“ bezeichnet, Christian Bayer spricht von einem „autobiografischen Werk“. Trifft Sie das nicht?
Nein, das blende ich aus, weil sie das Buch offensichtlich nicht gelesen haben. Die Kommentare wurden schon vor Veröffentlichung geschrieben. Eigentlich sollte man sich nur zu Sachen äußern, in die man sich eingelesen hat. Wobei: Das Leseverständnis von Ökonomen ist sehr begrenzt, habe ich festgestellt.
Was kritisieren Sie inhaltlich an Ihren Kollegen?
In dem Buch zeige ich, dass viele Ökonomen die wirtschaftlichen und politischen Folgen der Energiekrise fahrlässig unterschätzt haben – das ist die Fehldiagnose. Zudem hat eine Gruppe von meinungsstarken Wirtschaftsprofessoren gleich nach Beginn des russischen Angriffskriegs ein sofortiges Gasembargo empfohlen, weil ihre Modellberechnungen nur moderate Effekte indizierten. Doch diese Berechnungen basierten auf unrealistischen Annahmen.
Was daran war unrealistisch?
Hinter den Annahmen steckt eine Theorie, nach der Menschen und Unternehmen sich schnell und problemlos an die hohen Energiepreise anpassen können. Und dass Märkte auch in Krisenzeiten perfekt funktionieren und zu gesellschaftlich wünschenswerten Ergebnissen führen.
Was ist daran grundsätzlich falsch? Das lernt doch jeder VWL-Student in seiner ersten Vorlesung.
Ganz genau – und das ist das Problem. Das, was der Politik hier empfohlen wurde, basiert auf Einführungsveranstaltungen für Bachelorstudierende – nur mit etwas mehr Mathematik. Doch die Welt ist deutlich komplexer, und ich hätte mir von hoch dotierten Ökonomen doch etwas mehr Einsicht darüber versprochen. Konkret fehlten mir in der Analyse Unsicherheit und Anpassungskosten. Es ist ja nicht so, dass es dafür keine Arbeiten in der einschlägigen Literatur gibt.
Das müssen Sie erklären.
Um es einfach zu sagen: Viele können sich nicht mal eben eine Wärmepumpe oder ein E-Auto kaufen, nur weil die Gas- und Benzinpreise hoch sind. Und wenige Unternehmen können von heute auf morgen ihren gasbasierten Heizkessel durch einen strombasierten Heizkessel austauschen. Da gibt es hohe Investitionskosten, die solche Anpassungen für viele unmöglich oder zumindest schwierig machen. Hinzu kommt noch die große Verunsicherung mit Blick auf die zukünftigen Energiekosten, sodass Unternehmen ihre Investitionsentscheidungen überdenken. Das meine ich mit Unsicherheit. Viele Ökonomen waren deutlich zu optimistisch und haben diese Punkte ausgeblendet. Nach dem Motto: Steigen die Preise, werden die Unternehmen und Menschen schon schnell reagieren.
Einige der von ihnen im Buch benannten Ökonomen haben jetzt eine Studie vorgelegt, in der sie ihre Vorschläge zum Gasembargo evaluieren. Diese unterstreicht letztlich die Ergebnisse aus März 2022: ein Ja zum Gasembargo. Die Studie wurde peer-reviewed und veröffentlicht. Der Ökonom Rüdiger Bachmann hat geschrieben, dass die wissenschaftliche Debatte entschieden sei. Liegt er falsch?
Ja, weil keine einzelne Studie eine wissenschaftliche Debatte entscheiden kann – das ist eine recht fragwürdige Vorstellung von Wissenschaft. Zudem blenden die Autoren in ihrer Analyse wesentliche Aspekte der ökonomischen Realität einfach aus.
Zum Beispiel?
Sie ignorieren, dass aufgrund der hohen Inflation die Beschäftigten in Deutschland die größten Reallohnverluste der Nachkriegsgeschichte hinnehmen mussten. Und sie analysieren nicht die Spätfolgen der Energiekrise, und welche gesamtwirtschaftlichen Verluste damit verbunden sind.
Kurzfristige Reallohnverluste gleichen sich laut Lehrbuch langfristig wieder aus. Und genau das erleben wir doch gerade in den Tarifabschlüssen.
Das stimmt so pauschal nicht. Die Reallohngewinne 2024 werden nicht vollständig die 2022 und 2023 erlittenen Verluste ausgleichen. Und Ende 2024 wird der Reallohn immer noch rund acht Prozent unter dem Vorkrisentrend liegen – das sind die Spätfolgen der Energiekrise.
Die Bundesregierung hat im ersten Schritt ja sowieso nicht auf diese Studie zum Gasembargo gehört. Olaf Scholz hat sogar bei „Anne Will“ erklärt, dass die Ökonomen falsch liegen, was ihm als Arroganz ausgelegt wurde. Damit könnte die Debatte doch erledigt sein. Warum treten Sie jetzt nach?
Ich setze mich mit ökonomischen Fehlanalysen auseinander, in der Hoffnung, dass wir aus unseren Fehlern lernen können. Was ist daran verkehrt? Außerdem ist die Sache nicht ganz so einfach. Ja, zum Glück hat die Bundesregierung damals in der Embargodebatte nicht auf diese Ökonomen gehört. Aber: Im weiteren Verlauf haben sie sich dann eben doch durchgesetzt. Vor allem mit ihrer Erzählung, dass die Krise bereits im Frühjahr 2023 beendet war, und deshalb keine zusätzlichen Krisenmaßnahmen notwendig waren. Und bei der Ausgestaltung der Gas- und Strompreisbremse, die in Wahrheit gar keine echte Preisbremse war.
Wie bitte? Was war sie denn sonst?
Er war eine Pseudo-Preisbremse für die industriellen Verbraucher, weil die Mehrzahl der Ökonomen einen Eingriff in das Preissystem ablehnten. Letztlich gab es keine effektive Energiepreisbremse für die Industrie. Die Folgen dieser verfehlten Politik spüren wir jetzt.
Die Gaspreisbremse sollte einen Sparanreiz enthalten. Es lässt sich wohl kaum wegdiskutieren, dass dieser Anreiz funktioniert hat.
Stimmt, wir haben eine Gasmangellage verhindert, aber das hätten wir auch mit einer effektiven Energiepreisbremse für industrielle Verbraucher, wie ich im Buch zeige. Dabei hätte eine solche Bremse den Preisanstieg nicht auf null begrenzt, aber abgedämpft. Das hätte die Überreaktion der Energiemärkte ausgebremst und Unsicherheit aus dem Markt genommen.
Hatten wir denn überhaupt eine Überreaktion? Viele Ökonomen sind da anderer Meinung.
Ja, zumindest bei den Energiemärkten während der Energiekrise. Das hat dann die energieintensiven Unternehmen hart getroffen, ist aber auch in andere Branchen durchgesickert, wie Isabella Weber gezeigt hat. Wir haben der Industrie einen großen Schaden zugefügt, weil die Produktion heruntergefahren wurde und wichtige Investitionen ausblieben. Die hohen Zinsen haben die Investitionstätigkeit zusätzlich heruntergedrückt. Ein wichtiger Grund, warum wir jetzt, so viele Monate später, Wachstumsprobleme haben, liegt für mich also in dieser Zeit.
Wie sieht Ihr Weg aus der aktuellen Wachstumskrise aus?
Wir reden viel über strukturelle Probleme wie Bürokratie oder die ungünstige Altersstruktur. Das ist alles richtig, erklärt aber nicht die aktuelle Misere. Die Bundesregierung sollte jetzt ein großvolumiges Investitionspaket beschließen, mit einer unbürokratischen Investitionsprämie für den Mittelstand und einem Sondervermögen für kommunale Infrastrukturinvestitionen. Das würde wichtige Wachstumsimpulse setzen. Sie sollte zudem mit einer Strompreisgarantie Planungssicherheit bei den Energiekosten schaffen. Und sie braucht einen Plan für die Industriepolitik. Die aktuelle Industriepolitik der Ampelregierung ist kopflos und teilweise widersprüchlich, weil sie von marktliberalen Ökonomen schlecht beraten wird. In der fiktiven Welt dieser Ökonomen braucht es keine Industriepolitik, denn der Markt regelt das schon. Aber die USA und China betreiben aggressive Industriepolitik, und die deutsche Industrie zieht ins Ausland. Am Ende ist Deutschland auf dem Weg zu einer Disneyland-Ökonomie, mit wenig Industrie und viel Tourismus. Das kann doch niemand wollen.
Mit Tom Krebs sprach Jannik Tillar
Das Interview ist zuerst auf Capital.de erschienen