Komponistin Emilie Mayer: Hochwirksam gegen den Novemberblues

„Emilie Mayer. Komponistin“ steht auf ihrem Grabstein auf dem Dreifaltigkeitskirchhof in Berlin-Kreuzberg. Genau genommen ist es eher ein Gedenkstein, der erst im Jahr 2021 installiert wurde, nachdem ein Filmteam die vergessene Begräbnisstelle der Musikerin wiederentdeckt hatte. Sie liegt nur zehn Meter entfernt von den Gebeinen ihrer berühmteren ZeitgenossInnen Felix Mendelssohn Bartholdy und Fanny Hensel. Im 19. Jahrhundert allerdings war Emilie Mayer als Künstlerin viel bekannter, als etwa Fanny Hensel es zu Lebzeiten sein konnte. Denn Mayer war frei von familiären Bindungen und den damit einhergehenden Einschränkungen gesellschaftlicher Etikette.

Sie heiratete nie. Ihr Vater, ein wohlhabender Apotheker, hatte der Tochter eine musikalische Ausbildung ermöglicht und ihr überdies nach seinem Freitod ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, mit dem sie zielstrebig ihre künstlerischen Ambitionen verfolgte. Ins Einwohnerverzeichnis der Stadt Berlin ließ sie sich selbstbewusst mit der Berufsbezeichnung eintragen, die heute den Grabstein ziert: „Emilie Mayer. Componistin“.

Es gab im Deutschland des 19. Jahrhunderts zahllose musizierende und auch komponierende Frauen, doch ihre Werke blieben in der Regel auf den halbprivaten Rahmen der Salons beschränkt. Emilie Mayer aber reichte es irgendwann nicht mehr, Kammermusik für den Hausgebrauch zu schreiben. Mit 28 Jahren zog sie 1840 aus der mecklenburgischen Provinz nach Stettin, um ihre musikalische Ausbildung zunächst bei Carl Loewe fortzusetzen, der dort als städtischer Musikdirektor wirkte und offenbar ein vorurteilsfreier Geist war. Jedenfalls erkannte er Mayers großes Talent und förderte sie nach Kräften. Ihre ersten beiden Symphonien wurden im Stettiner Instrumentalverein aufgeführt.

Allmählich wiederentdeckt

Zahlreiche weitere Orchesterwerke sollten folgen. 1850 zog die Komponistin nach Berlin, wahrscheinlich mit dem expliziten Ziel, ihrer Musik mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Und sie schaffte es, sich durchzusetzen. Aufführungen ihrer Symphonien im großen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt finanzierte sie selbst. Sie wurde anerkennend besprochen, konnte sich als Komponistin etablieren und verkehrte in höchsten gesellschaftlichen Kreisen. Im Laufe ihres Lebens komponierte Emilie Mayer offenbar (nicht alles ist erhalten) acht Symphonien, fünf Ouvertüren und ein Klavierkonzert. Außerdem entstanden viele kammermusikalische Werke.

Im Zuge ihrer allmählichen Wiederentdeckung wurde in den letzten Jahren immer wieder einmal das eine oder andere Orchesterstück gespielt, auch ein paar Aufnahmen gibt es. Doch einen echten Meilenstein in der Mayer-Rezeption setzte die Akademie für Alte Musik Berlin mit ihrem Konzertzyklus „Ein Festival für Emilie Mayer“ im Pierre-Boulez-Saal. An drei ausverkauften Abenden spielte das Ensemble sämtliche erhaltene Orchesterwerke Mayers und führte eindrucksvoll vor, wie sehr zu Unrecht diese erste deutsche Symphonikerin in Vergessenheit geraten war.

Auf historischem Instrumentarium musizieren die Alte-Musik-SpezialistInnen Mayers von klassischer und romantischer Formensprache geprägtes Werk im Stehen und ohne DirigentIn, vom Konzertmeister Bernhard Forck geleitet. Diese Aufführungspraxis ist nicht eigentlich „historisch“ im Sinne des 19. Jahrhunderts, sondern eher ein epochenübergreifendes Crossover-Konzept, funktioniert aber beeindruckend organisch. Das gilt auch im Zusammenspiel mit dem Pianisten Alexander Melnikov bei der Aufführung von Mayers Klavierkonzert, in dessen mitreißenden Tonkaskaden-Marathon – von Melnikov mit leichtfingriger Virtuosität und Präzision aus der Tastatur gezaubert – die orchestralen Einwürfe gar nicht so einfach passgenau zu platzieren sind.

Ein Weißbrot für die Königin

„Mitreißend“ ist Mayers Musik sehr oft, von bezwingendem Schwung, gepaart mit Witz und Unerschrockenheit. Mitunter scheint sie sich selbst überbieten zu wollen im Erfinden immer neuer musikalischer Motive, die sie in provokantem Kontrast gegeneinander setzt. Oder sie zeigt, etwa in ihrer e-Moll-Symphonie, wie sich aus einem Null-Motiv, einem einzigen Ton, innerhalb nur weniger Takte eine musikalische Entwicklung generieren lässt, deren gewaltige Spannung sich in einem rasanten Tutti entladen muss.

Ihre humoristisch zupackende C-Dur-Ouvertüre wiederum gehört in jede musikalische Hausapotheke als hochwirksames Mittel gegen Novemberblues. In ihrer wahrscheinlich schönsten und letzten (erhaltenen) Symphonie aber, Nr. 7 in f-Moll, die möglicherweise 1856 entstand, beeindruckt und überrascht die Komponistin mit langen thematischen Bögen, beziehungsreicher Durchdringung der Themen und gesanglichen Linien. Ja, Emilie Mayers symphonische Werke sind ein musikalisches Füllhorn, und die Akademie für Alte Musik hat genau das ausgesprochen facettenreich bewiesen.

Übrigens hatte die Komponistin ein weiteres herausragendes Talent. Doch sind ihre Werke auf dem Gebiet der bildenden Kunst nicht erhalten, was unter anderem an dem Material liegt: Sie hatte eine eigene Technik entwickelt, Skulpturen aus Weißbrot zu formen, nahm damit an Kunstausstellungen teil und setzte ihre Brotkunst auch erfolgreich für ihre musikalischen Ambitionen ein. Eine besonders opulente Weißbrotskulptur in Form einer prachtvollen Schale ließ sie an die preußische Königin schicken. Daraufhin bekam sie sowohl eine königliche Goldmedaille verliehen als auch die Erlaubnis, das Schauspielhaus mietfrei für ihr nächstes Konzert zu nutzen.