
Das gute, alte lineare Fernsehen verhält sich zu Tiktok-Insta-Youtube-Kurzvideos ungefähr so wie eine Muskete zu einem Maschinengewehr. Mit der Fernbedienung führte die Zeitvertrödelungsreise auf dem Sofa durch 20, 30 oder vielleicht auch ein paar mehr Kanäle. Manche Sendungen schafften es während der Zapperei sogar, die Aufmerksamkeit für mehrere Minuten – jawohl: Minuten! – zu binden. Aus gegenwärtiger Sicht war das eine ultralangsame, behäbige Angelegenheit. Heute saugen stattdessen die unzähligen Kurzvideos die freie Zeit an wie ein Schwarzes Loch und trommeln dabei stets mit Dauerfeuer in höchster Kadenz auf den Geist. Sogar dabei bricht Ungeduld aus: Passiert in den ersten Sekunden nichts, dann heißt es: wisch und weiter. „Wait for it“, wie manche Videos einen anbetteln? Vergiss es! Und zack ist ein weiteres Zeitloch aus dem Tag gestanzt.
Wisch, wisch, wisch, ein Kurzvideo nach dem anderen – das muss Auswirkungen auf Denken und Erleben der Menschen haben. Dieser Frage sind gerade Psychologen um Lan Nguyen von der australischen Griffith University nachgegangen und haben dazu eine Meta-Analyse im Fachjournal Psychological Bulletin publiziert. Die Auswertung von 71 Einzelstudien mit insgesamt 98 299 Teilnehmern legt zahlreiche Effekte nahe, die mit dem Konsum von TikTok-Insta-YouTube-Sonstwas-Kurzvideos korrelieren. Die ausgewerteten Studien stammten mehrheitlich aus Asien (74 Prozent), und Frauen stellten darin mit 60 Prozent der Teilnehmer die Mehrheit. Im Schnitt waren die Probanden der analysierten Publikationen knapp 23 Jahre alt.
Die deutlichsten Effekte zeigten sich dabei im Zusammenhang mit der Kognition: Wer fleißig Kurzvideos konsumierte, neigte zu schlechterer Aufmerksamkeit und Impulskontrolle. Zudem zeigten sich Korrelationen mit eingetrübter Gedächtnisleistung, Sprachvermögen und dem Arbeitsgedächtnis. Die letzteren drei Befunde fielen im Vergleich jedoch kleiner aus. Auch eine schlechtere psychische Gesundheit, Ängstlichkeit sowie Stressempfinden zeigten Korrelationen mit intensivem Kurzvideokonsum. Diese waren jedoch deutlich geringer als die Effektstärken der kognitiven Begleiterscheinungen.
Markus Söder und seine Liebe für Döner
Kurzvideos haben sich seit dem Erfolg von Tiktok zur dominanten Medienform in den sozialen Netzwerken entwickelt. Zu Beginn handelte es sich meist um reine Unterhaltung. Mittlerweile aber werden zum Beispiel auch politische Inhalte in diesen Formaten transportiert, wie auch die Autoren um Lan Nguyen betonen. Und so singt jetzt zum Beispiel die Linken-Politikerin Heidi Reichinnek exaltiertes Playback zu „What’s Up“ von den 4 Non Blondes, um irgendwas mit hohen Mieten anzuprangern, während der bayerische Ministerpräsident Markus Söder im Kurzvideo über seine Döner-Liebe in die Kamera fränkelt. Die von solchen Videos ausgelöste Fremdscham erreicht eine Intensität, dass deren psychische Effekte auch ohne wissenschaftliche Studien als massiv identifizierbar sind.
Zum Glück, muss mit Blick auf solche Inhalte gesagt werden, serviert der große Algorithmus immer neue, überraschende Bewegtbilder, sodass man stets länger bei der Stange bleibt, als gewünscht, aber immerhin Söder und Reichinnek rasch wieder vergessen kann. Die Angebote bespielen das Belohnungssystem des Gehirns eben nahezu perfekt. Und womöglich ist es genau das, was hinter den von Lan Nguyen und ihren Kollegen beobachteten Korrelationen stecken könnte: Regelmäßig hochgradig stimulierenden Medieninhalten ausgesetzt zu sein, könnte einen Gewöhnungseffekt mit sich bringen. Wie bei einer Sucht muss dann die Dosis an unmittelbar befriedigenden Videos erhöht werden, was kognitiv fordernde Tätigkeiten wie Lesen, Denken oder ein Problem zu lösen noch anstrengender als ohnehin schon macht.
Allerdings muss betont werden, dass die Meta-Analyse lediglich Korrelationen beschreibt. Über kausale Zusammenhänge lässt sich aus diesen Ergebnissen nichts ablesen. Unstrittig dürfte aber sein, dass das Kurzvideo-Dauerfeuer aus dem Smartphone mentale Auswirkungen nach sich ziehen dürfte – und wenn es sich nur um Bedauern über sinnlos vergeudete Zeit handelt.
