

Kennen Sie diesen Moment? Sie kommen an Heiligabend aus dem Weihnachtsgottesdienst, und am Ausgang der Kirche stehen Sie vor dem Pastor, der Ihnen die Hand schüttelt, frohe Weihnachten wünscht und dann, mit wissendem Schmunzeln, sagt: „Bis nächstes Jahr!“ Ihnen wird warm um den Kopf. Nicht aus Gottesehrfurcht, sondern weil Ihnen die Schamesröte ins Gesicht steigt; man hat Sie schließlich gerade als Saisonchristen entlarvt.
Als solcher qualifiziert man sich primär, indem man kirchlichen Veranstaltungen fernbleibt und nur gelegentlich zu hohen Feiertagen auftaucht – daher auch die Bezeichnung „U-Boot-Christ“. Er zeigt sich, wenn die Kirche und ihre festliche Atmosphäre zur eigenen inneren Festtagsstimmung passen. Die Kirche ist so toll erleuchtet, ach, und der Chor singt ja auch so schön. Und man kann sich zu Hause ganz nebenbei auch noch vor den letzten Vorbereitungen für das Weihnachtsessen drücken.
Und vielleicht sind Sie ja sogar religiös, praktizieren Ihren Glauben das restliche Jahr über aber lieber im Privaten als beim sonntäglichen Gottesdienst. Das sei Ihnen überlassen, Sie zahlen schließlich Kirchensteuer (tun Sie doch, oder?). Da werden Sie sich auch ein bisschen Feierlichkeit zum heiligen Fest abholen dürfen. Und doch ist der Kirchenbesuch an Festtagen für Saisonchristen nicht so einfach.
Kulinarische und emotionale Vorbereitungen
Spielen wir das Ganze mal durch. Es ist der 24. Dezember, man hat einen stressigen Monat inklusive einiger Weihnachtsfeiern hinter sich und kann den Kollegen hoffentlich noch mit gutem Gewissen in die Augen schauen. Alles ist vorbereitet, die Geschenke sind besorgt, womöglich auch schon eingepackt. Die Anreise der Familie wurde nicht nur kulinarisch, sondern auch emotional vorbereitet („Wenn Oma dich auf dein Gewicht anspricht, atme erst mal tief ein und aus, bevor du reagierst!“). Auch eine Strategiebesprechung für den möglichen Ernstfall hat stattgefunden („Das Thema Politik lassen wir am besten ganz aus!“).
Außerdem ist die gesamte Wohnung auf Hochglanz geputzt und festlich geschmückt. Auch gestritten hat man sich womöglich noch kurz, weil der Partner auf den Gedanken kam, vier Stunden vor dem Eintreffen der Gäste sei der perfekte Moment, um den Keller mal wieder aufzuräumen – eine klassische Taktik, um sich um unangenehme Aufgaben herumzumogeln. Doch man schließt schnell wieder Frieden. Es ist schließlich Weihnachten, da will man doch besinnlich sein. Und jetzt, endlich, soll es schön werden. O du selige! Um das Ganze einzuläuten, soll es in den Weihnachtsgottesdienst gehen.
Noch zu Hause startet man womöglich mit einem Sekt – und hier lauert der erste Fallstrick. Denn in dieser Laune, einer Mischung aus Anspannung und Vorfreude, wird aus einem Glas schnell eine Flasche. Auf leeren und vom Stress des Tages geplagten Magen kann das zum Problem werden. Für Katholiken ganz besonders, nämlich dann, wenn Weihrauch zum Einsatz kommt. Es gibt Menschen, bei denen es zu schwerer Übelkeit kam. Für Saisonchristen also gilt: Zurückhaltung beim Alkohol.
Ruhe bewahren, auch bei unchristlichem Verhalten anderer
Doch jetzt heißt es erst mal: auf zur Kirche. Schon aus der Ferne ist das Gedränge zu sehen. Menschenmassen vor dem Kirchentor: Es ist schlimmer als auf dem Bahnsteig, nachdem drei ICEs hintereinander ausgefallen sind. Jetzt heißt es Ruhe bewahren, auch wenn es unter den Wartenden zu Episoden unchristlichen Verhaltens kommt. Manche Menschen zeigen in der Saison der Barmherzigkeit ihre unbarmherzigste Seite. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.
Hat man es einmal hineingeschafft: Obacht bei der Platzwahl! Hier muss man strategisch vorgehen. Wer zu weit vorne in direkter Sichtweite des Pastors sitzt, läuft Gefahr, ein dauerhaft besinnliches Gesicht aufsetzen zu müssen. Gleiches gilt für die Empore: In der Nähe des hier platzierten Gospelchors, der das ganze Jahr auf dieses Gastspiel hingefiebert hat, ist dem Besucher die Aufmerksamkeit der versammelten Gemeinde sicher. Zum echten Problem wird das, wenn man etwas wirklich lustig findet – und davon wird es an diesem Nachmittag einiges geben.
Sei es das Gesangssolo der engagierten Sopranistin, das doch etwas zu sehr an Zwölftonmusik erinnert. Oder die Darbietung des Bläserensembles, dem man die drei vorangegangenen Glühweine mit Schuss im Gemeindehaus anmerkt. Oder man erspäht seinen Schwarm aus der Schule, der in der zwölften Klasse definitiv den Peak an Attraktivität erlebt hat und jetzt damit beschäftigt ist, seine zwei Kleinkinder davon abzuhalten, den Weihnachtsbaum durch das Ziehen an der Lichterkette zu Fall zu bringen.
Kein Handy im Gottesdienst
Was uns zu einer Regel bringt: Unter keinen Umständen lachen – außer natürlich, der Pastor macht einen Witz. Dann lachen Sie bitte unbedingt.
Es beginnt die Andacht. Womöglich findet man diese langweilig, der Pastor kommt auch wieder so moralisch daher. Aber das muss man aushalten. Vor allem heißt es hier: Das Handy bleibt in der Tasche. Und das bitte ausgeschaltet. Unter keinen Umständen sollte man den Fehler machen, es rauszuholen und mit auf Maximum gestellter Bildschirmhelligkeit dem daheimgebliebenen Partner eine Whatsapp zu schreiben: „Noch ein Vaterunser, dann ist das endlich vorbei. Fahr schon mal den Wagen vor.“ Gott sieht alles – und der Sitznachbar auch.
Jetzt wird wahrscheinlich noch mal gesungen. „O du fröhliche“ und „Stille Nacht, heilige Nacht“ sind hier beliebte Klassiker. Sicherheitshalber hat man den Text vorab auswendig gelernt, auch die zweite und dritte Strophe. Denn wer weiß, ob es genügend Gesangszettel gibt. Und Achtung, das hier ist kein Casting! Die Gemeinde ist nicht zusammengekommen, um eine Solonummer zu hören. Also spart man sich das Geknödel und dimmt die Lautstärke. Hauptsache, der Mund bewegt sich zum Text.
Nun ist es geschafft. Und ja, es hat sich nun sogar ein bisschen feierliche Stimmung breitgemacht. Wenn der Pastor an die Kollekte erinnert, sollte man als Saisonchrist doch an die Aufforderung aus einem Weihnachtsgottesdienst vor einigen Jahren denken: „Liebe Gemeinde, vergessen Sie nicht: Im Kollektenbeutel hören wir es lieber rascheln als klingeln.“
