Kindesmissbrauch im Sport: „Oft sind es die besonders Engagierten im Verein“

Julia Gebrande ist Sozialarbeiterin, hat die Beratungsstelle Wildwasser in Esslingen mit aufgebaut und ist dort Professorin für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen. Außerdem ist sie die Vorsitzende der Unabhängigen Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Die Kommission sammelt und untersucht sämtliche Formen sexuellen Kindesmissbrauchs in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR ab 1949.  

DIE ZEIT: Frau Gebrande, Correctiv und 11 Freunde haben Hunderte Fälle von Gewalt und sexuellen Übergriffen an Kindern und Jugendlichen im Fußball dokumentiert. Wie groß ist das Problem tatsächlich? 

Julia Gebrande: Der größte Tatkontext bleibt die Familie. Aber für Kinder und Jugendliche ist der Sport ein wichtiger Lebensbereich, der Ausgleich bietet. Im Idealfall ist er etwas Schönes. Was Übergriffe dort besonders dramatisch macht. Die Täterinnen und Täter sind meistens Vertraute der Betroffenen. Was wir in diesen wichtigen Recherchen sehen, ist nur ein kleiner Ausschnitt der Realität. Die Dunkelziffer ist vermutlich groß. Weil es schwerfällt, dort genauer hinzuschauen. 

ZEIT: Warum?  

Gebrande: Sport ist sehr anfällig für sexuellen Kindesmissbrauch. Es geht um Leistung, Hierarchien und Abhängigkeiten – das können Täter missbrauchen. Der Mangel an ehrenamtlichen Übungsleitern oder Trainerinnen erleichtert es Tätern zudem, Zugang zu Kindern zu bekommen. Vereine freuen sich über jeden, der sich engagiert.

ZEIT: Ist Fußball häufiger betroffen als andere Sportarten? 

Gebrande: Ich glaube nicht. Jeder Sport hat eigene Risikofaktoren. Aber mit einer fußballbezogenen Recherche wie dieser steigt die gesellschaftliche Sensibilität. Viele Menschen erkennen dann: „Mir ging es ähnlich.“ Gerade im Sport, besonders im Fußball mit seinen männlich konnotierten Strukturen und Abhängigkeitsverhältnissen, ist es bisher schwierig, Räume für Gespräche über sexuelle Übergriffe zu schaffen.  

Julia Gebrande ist die Vorsitzende der Unabhängigen Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. © Christine Fenzl

ZEIT: Was weiß man über die Täter?  

Gebrande: Oft sind es die besonders Engagierten im Verein, die Vertrauen zu den Kindern aufbauen und ihre Macht ausnutzen. Ein sehr starkes Engagement einer einzelnen Person kann Risiko- und Schutzfaktor zugleich sein. Ein Generalverdacht ist falsch, aber es lohnt sich schon, nach der Motivation zu fragen und Verdachtsmomenten nachzugehen. Gerüchte gibt es bei sexuellem Missbrauch eigentlich immer. Leider heißt es zu oft erst im Nachhinein: „Ein bisschen seltsam fand ich das schon.“  

ZEIT: Also hilft die direkte Konfrontation mit Vorwürfen?   

Gebrande: Davor möchte ich warnen. Täter sind Meister der Manipulation, und es ist nicht so leicht, sie zu überführen. Sexualisierte Gewalt überfordert uns alle. Und sie löst viele Emotionen aus, was auch zu Überaktivismus führen kann. Typischerweise wird dann schnell die Polizei eingeschaltet. Ein sexueller Missbrauch ist ein Offizialdelikt. Einmal angezeigt, kann er nicht einfach zurückgenommen werden. Die Polizei muss sofort ermitteln. Wenn diese Anzeige nicht gut vorbereitet ist, kann es passieren, dass Fälle nicht richtig aufgeklärt werden und Täter weitermachen können. Mein Rat: Suchen Sie sich unbedingt professionelle Hilfe, etwa in einer Fachberatungsstelle. 

ZEIT: Sind die Täter immer Männer?  

Gebrande: Männer haben in unserer Gesellschaft nach wie vor mehr Macht und sind daher auch häufiger Täter. Aber auch Frauen begehen Übergriffe.  Dann ist die Aufarbeitung besonders herausfordernd. Wir können uns Frauen als Täterinnen nämlich schwerer vorstellen und Betroffene trauen sich bei Frauen seltener, einen Übergriff als solchen zu benennen. 

ZEIT: Sport ist körperlich. Trainerinnen müssen Übungen vormachen, Physiotherapeuten behandeln den Körper. Wie erklärt man Jugendlichen, wie sie Grenzen setzen können?  

Gebrande: Es ist wichtig, mit ihnen ins Gespräch zu kommen: Was fühlt sich gut an, was nicht? Wo sind ihre individuellen Grenzen? Kinder sollten von klein auf lernen, Gefühle in Worte zu fassen. Damit lassen sich auch Übergriffe benennen. Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, nein zu sagen, auch gegenüber Trainerinnen und Trainern. Sie dürfen ihre Intimsphäre, ihren Körper, schützen und sich Hilfe holen. Das beginnt nicht in der Turnhalle, sondern im Alltag.  

ZEIT: Was können Eltern tun, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas nicht stimmt? 

Gebrande: Scham und Schuldgefühle liegen meistens bei den Kindern. Das muss umgedreht werden. Erwachsene sollten ihren Kindern sagen: „Wenn dir jemand zu nahekommt oder dich unangenehm berührt, kannst du zu mir kommen.“ So können Eltern auch Veränderungen beim Kind wahrnehmen. Kinder lernen im Sport Disziplin und Durchhaltevermögen. Sie müssen aber auch erfahren: Du darfst schwach sein, du darfst dir Hilfe holen. Die beste Prävention ist es, wenn das Kind nicht nur eine, sondern mehrere Vertrauenspersonen hat. Ich habe das in meiner Forschung „Landeplätze“ genannt. Das sind Menschen, bei denen die Botschaften und Signale von Kindern landen können, wenn es ihnen nicht gut geht. Eltern sollten ihren Kindern möglichst viele davon bieten. Oft haben die Kinder eine gute Beziehung zum Trainer, was die Situation ambivalent macht. Deshalb sollten sich Eltern auch mit Täterstrategien auseinandersetzen. Das Vorgehen kann sehr perfide sein.

ZEIT: Kinder und Eltern müssen Trainerinnen und Trainern aber vertrauen. Die fordern, erkennen Leistung an und belohnen. Andererseits, sagen Sie, darf man nicht blind sein. Wie löst man das Dilemma? 

Gebrande: Gar nicht, es bleibt ein Dilemma. Vertrauen kann ausgenutzt werden. Es gibt Menschen, die ihre sexuelle Befriedigung auf Kosten von Kindern ausleben. Das muss man sich bewusst machen. Deshalb hilft es jedem Sportverein, gemeinsame Kontrollmechanismen zu erarbeiten. Dafür gibt es Schutzkonzepte. In denen sind Risikomomente, Risikoorte und riskante Beziehungen benannt, um Schutzlücken zu schließen. Ein Schutzkonzept ist nicht Ausdruck von Misstrauen, sondern Kinderschutz. Ich gebe Ihnen ein Beispiel.  

 ZEIT: Bitte. 

Gebrande: Eine Mutter kam kürzlich zu mir und erzählte mir von den fünf wichtigsten Regeln, die im neuen Sportverein ihres Sohnes gelten sollen. Eine lautete: „Petzen ist verboten.“ Wie kann man das so formulieren? Gerade wenn Kinder ein ungutes Gefühl haben, sollten sie sich jemandem anvertrauen dürfen und ermutigt werden, zu sprechen. Wir sollten, um in dieser Sprache zu bleiben, Petzen unterstützen und die Botschaft vermitteln, dass schlechte Geheimnisse weitererzählt werden dürfen.