
In der Affäre um die rassistische Beleidigung des Vorsitzenden des Kulturbeirats der Stadt Kassel durch den Direktor der Museumslandschaft Hessen Kassel hat der Kasseler Oberbürgermeister Sven Schoeller die Erwartung geäußert, dass die Prüfung der Angelegenheit durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst mit dem Ausscheiden von Martin Eberle aus dem Amt des Direktors der Museumslandschaft enden wird, die seit 2023 den offiziellen Namen Hessen Kassel Heritage (HKH) führt. In der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen“ wurde Schoeller, der in Personalunion auch Kulturdezernent ist, mit der Bewertung zitiert, die Äußerungen, „die Herr Eberle getätigt haben soll“, hätten „einen zutiefst rassistischen Gehalt“.
Der Grünen-Politiker, der 2023 zum Stadtoberhaupt gewählt wurde, erklärte des Weiteren: „Sofern sich der Vorgang so bestätigen sollte, kann ich mir nicht vorstellen, dass Herr Eberle seine derzeitige Funktion weiter fortführen würde.“ Wie ein Sprecher der Stadt Kassel der F.A.Z. bestätigte, bezieht sich der Begriff „Funktion“ in dieser Stellungnahme nicht auf die von Eberle kraft Amtes wahrgenommene Mitgliedschaft im städtischen Kulturbeirat, sondern auf das Leitungsamt des Museumsverbunds um die Welterbestätten im Kasseler Bergpark, dessen Besetzung in der Hand des Landes Hessen liegt.
Eskalation beim Vernetzungstreffen
Am 8. Oktober 2024 hielt der Verein Kulturnetz Kassel sein dreizehntes jährliches Vernetzungstreffen für Kulturschaffende der Region ab. Daran nahmen auch Martin Eberle und David Zabel teil. Zabel arbeitet als Moderator und Sportpädagoge und engagiert sich in der antirassistischen Bildungsarbeit, etwa im Beirat des Vereins Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. Im Kulturbeirat, der sich 2023 konstituierte und den Magistrat in Fragen der kulturellen Entwicklung Kassels und bei Planungen kultureller Vorhaben mit gesamtstädtischer Perspektive beraten soll, vertritt er die Sparte Soziokultur.
Eine „Vollversammlung der Kulturschaffenden“ im Kasseler Kulturbahnhof wählte am 29. März 2023 acht Vertreter der freien Kulturszenen, die im Beirat mit den Leitern der öffentlichen Institutionen Staatstheater, documenta gGmbH, Kunsthochschule und Hessen Kassel Heritage sowie mit den Kulturpolitikern der Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung zusammenkommen. Etwa 200 Personen waren zur Vollversammlung erschienen, es gab 66 Kandidaten. Die erste Vorsitzende des Kulturbeirats war eine Vertreterin der Theaterszene. Zabel, der sich schon in der konstituierenden Sitzung des Kulturbeirats am 17. Mai 2023 um den Vorsitz beworben hatte, wurde in der zweiten Sitzung am 9. November 2023 zu ihrem Nachfolger gewählt.
Der Kulturrat tagt zweimal im Jahr. Für das Empfinden hauptberuflicher Funktionäre, deren Arbeitsleben aus einer endlosen Kette von Terminen besteht, mag das häufig sein, nach dem Gefühl ehrenamtlicher Kulturarbeiter, die ihr gesamtes kreatives Tun als ständigen Aushandlungsprozess verstehen, eher selten. Wer eine Sitzung versäumt, muss jedenfalls zwölf Monate warten, bevor er wieder Konzepte vortragen kann oder Kritik zu hören bekommt.
Vermittlung und Vertretung
Zabel nutzte eine Pause des Treffens am 8. Oktober 2024, um Eberle zu fragen, ob er an der nächsten Sitzung des Kulturbeirats teilnehmen werde. Als Eberle die Frage verneinte, regte Zabel an, dass er sich von Aymen Hamdouni vertreten lassen könne, der bei HKH für Bildung, Vermittlung und Diversität zuständig ist. Eberle wies dieses Ansinnen mit Worten zurück, die es ungewiss erscheinen lassen, dass der Direktor, der 2017 von Gotha nach Kassel kam und von 2003 bis 2007 das Städtische Museum Braunschweig geleitet hatte, sein Direktorenamt wird behalten können: „Herr Zabel, ich sag jetzt mal was Rassistisches. Ich schicke meine Kollegin, und ich kann ihr ja sagen, dass sie sich Schuhcreme ins Gesicht schmieren soll, dann fühlen Sie sich bei Kulturbeiratssitzungen nicht so alleine.“

Für alle Mitglieder des Kulturbeirats, die gewählten wie die kraft Amtes entsandten, sind Vertreter im Fall der Verhinderung bestellt. Die mit dieser Aufgabe betraute Mitarbeiterin sollte nach Eberles Willen statt seiner erscheinen, nicht der von Zabel vorgeschlagene Kollege. Eberle teilte Zabel seine Entschlossenheit, vom vorgesehenen Prozedere nicht abzuweichen, in Form einer rassistischen Äußerung mit, die er selbst vorab als rassistisch klassifizierte. Was er sagte, sagte er mit Ansage.
Am 6. Februar 2025 bestätigte Eberle auf Anfrage der F.A.Z., dass er am 8. Oktober 2024 die zitierten Sätze zu Zabel gesagt hatte. Nach der ersten Online-Veröffentlichung der F.A.Z. reichte die Pressesprecherin von HKH eine Erläuterung der Umstände nach: „Aus Sicht von Herrn Eberle forderte Herr Zabel eine Neubesetzung seiner Vertretungsposition durch eine Person of Colour, weil er die Vertretungen mit Migrationskompetenzen im Kulturbeirat erhöhen wolle. Dem wollte Herr Eberle in Rücksichtnahme auf die ihn offiziell vertretende Kollegin nicht stattgeben.“ Zabel hat gegenüber der F.A.Z. die Darstellung zurückgewiesen, dass er als Vorsitzender des Kulturbeirats die dauerhafte Auswechselung eines Vertretungsmitglieds gefordert oder auch nur in Vorschlag gebracht habe. Sein Vorschlag sei ausschließlich und ausdrücklich auf die damals bevorstehende Sitzung beschränkt gewesen, weil auf deren Tagesordnung das Thema kulturelle Teilhabe stand, das Fachgebiet Hamdounis.
Eine qualifizierte Agentur
Gegenüber der F.A.Z. hat Eberle angegeben, dass er den bösen Schuhcreme-Witz, der Erinnerungen an die Praxis des „Blackfacing“ im Schaugewerbe hervorrufen musste, „im Affekt“ gemacht habe. Er bekundete den Willen, seine „im Anschluss an den Vorfall schriftlich getätigte Entschuldigung“ in einem persönlichen Gespräch mit Zabel zu wiederholen, weil er die Zusammenarbeit mit ihm im Kulturbeirat schätze und fortsetzen wolle. „Ich muss daher – und werde – an mir arbeiten, dass ein solcher Wutausbruch in Zukunft nicht mehr passiert. Deshalb werde ich auch an einer Antidiskriminierungsschulung teilnehmen. Hier bin ich bereits in Kontakt mit einer qualifizierten Agentur.“
Die Schulung sollte sich möglicherweise nicht auf antirassistische Bewusstseinsschärfung beschränken. Am 5. Februar verhandelte das Arbeitsgericht Kassel über die Klage einer Bewerberin, der Eberle trotz vorheriger schriftlicher Zusage einen Praktikumsplatz zur Vorbereitung auf die Ausbildung zur Restauratorin verweigerte, weil sie wegen einer chronischen Erkrankung nur zu 80 Prozent arbeitsfähig ist. Es wurde ein Vergleich mit Verpflichtung zu einer Entschädigungszahlung geschlossen, den das Ministerium binnen zwei Wochen bestätigen muss.
Eberles Einordnung des „Vorfalls“ vom 8. Oktober 2024 als „Wutausbruch“ passt nicht nur zu einer Selbstbeschreibung, mit der Eberle 2023 in einem umfangreichen Zeitungsartikel zitiert wurde, den die in Kassel erscheinende „Hessisch-Niedersächsische Allgemeine“ (HNA) im August 2023 seinem Führungsstil und dessen Wirkungen in der Mitarbeiterschaft der Museumslandschaft widmete. Eberle sagte demnach von sich, er sei „sicherlich ein leidenschaftlicher und emotionaler Mensch“ und „kein sachlicher Typ“. Schon 2014 beschrieb ein Artikel der „Thüringischen Landeszeitung“ Eberles Gebaren als Leiter der Stiftung Schloss Friedenstein in Gotha in ähnlichen Wendungen wie neun Jahre später das große Recherchestück in der HNA, als „wenig zimperlich“, „eher ruppig“ und „fast bockig“. Er gelte als eitel und werde von Fachkollegen als „Duodezfürst“ verspottet. Es herrsche „ein Klima der Angst und des Misstrauens“.
Das Klischee vom wütenden Schwarzen
Die schriftliche Entschuldigung Eberles ging bei Zabel am 22. Oktober 2024 ein, auf den Tag genau zwei Wochen nach dem „Vorfall“, über den Zabel in der Zwischenzeit mit Eberles Mitarbeiter Handoumi gesprochen hatte. Von einem Wiedergutmachungsversuch „im Anschluss“ an das Vorkommnis wird man hier nur sprechen, wenn man die Pünktlichkeitsmaßstäbe der Deutschen Bahn zugrunde legt, die einer der größten Arbeitgeber in Kassel ist.

In der Situation des 4. Oktober 2024 erlebte Zabel seinen Beleidiger nicht als wütend, sondern als kühl und gefasst. Eberles nachgereichte Selbstdiagnose vom „Wutausbruch“ befremdet Zabel aber vor allem deshalb, weil er beim Versuch der Verarbeitung eines Angriffs auf seine Selbstachtung, der ihn in der vertrauten Umgebung seiner professionellen und ehrenamtlichen Arbeit völlig unvorbereitet traf, eine bittere Erfahrung machen musste, die für schwarze Menschen nicht nur in Deutschland zu den Lebensrisiken gehört: Er sah sich mit dem „Klischee des wütenden schwarzen Mannes“ konfrontiert, „der mit Rassismusvorwürfen um sich wirft“, ohne dass ihm bei der Ausstellung dieses Steckbriefs eines Wut-Antibürgers mildernde Umstände wegen einer Affekttat zugebilligt worden wären.
Die Kasseler Lokalmonopolzeitung widmete Zabel in ihrer Ausgabe vom 4. Februar einen langen Kommentar mit der Überschrift „Rassismus-Vorwurf verbietet sich“. Laut Unterzeile hatte der Artikel den „Redebeitrag von David Zabel“ auf der Kasseler Demonstration mit dem Motto „Wenn die Brandmauer stürzt, bauen wir sie wieder auf“ am 2. Februar zum Gegenstand. Von der Rednertribüne aus hatte Zabel den HKH-Direktor einen „rassistischen Landgrafen“ genannt (in Anspielung auf die Fürsten, deren Erbe Eberle verwaltet).
Aufmerksamkeit für Postkolonialismus
Der Kommentator stellte die Frage, was Zabel, der mit Bild als „Aktivist“ und „Kulturschaffender“ vorgestellt wurde, „bloß geritten“ habe. Verschiedene mögliche Sachgründe wurden genannt und verworfen, darunter postkoloniale Kritik am Umgang mit dem landgräflichen „Menschenzoo“ im chinesischen Dorf des Bergparks. Dort lägen „die Sache längst nicht so eindeutig“, wie sie die Initiative „Kassel postkolonial“ darstelle. Paternalistisch belehrte der Kommentator Zabel und dessen lokale Verbündete: „Ja, die deutsche Gesellschaft hat Nachholbedarf in der Aufarbeitung und im Umgang mit Kolonialismus und Rassismus. Mit überzogenen Vorwürfen ist diesem berechtigten Ansinnen allerdings nicht gedient.“
In der Aufmerksamkeit für „Kassel postkolonial“ sieht Zabel im Rückblick das Gute dieses Artikels über seine Person. Auf jeder Ebene hatte Zabel nach Auffassung des Kommentators mit seinem Redebeitrag sein Thema verfehlt. In gesamtpolitischer, nationaler Perspektive, wo es doch jetzt gerade um den Zusammenhalt der Demokraten gehe, stellte sich „die abwegige Kritik“ Zabels an Eberle ebenso als „fehlgeleitet“ dar wie beim Blick hinter die institutionellen Kulissen von Schloss Wilhelmshöhe: Die Anstellung des aus Tunesien gebürtigen Diversitätsbeauftragten führte der Kommentar zur Weißwaschung des angeschwärzten Direktors ins Feld.
Eberles Verbalattacke, die sich vier Monate vorher ereignet hatte, wurde nicht erwähnt. Vor drei Monaten brachte die Stadt dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, dem HKH untersteht, die Sache zur Kenntnis. Sie war nicht stadtbekannt und auch nicht Stadtgespräch, dafür ist eine Stadt, die 200 Kulturschaffende für eine Vollversammlung aufbieten kann, dann doch zu groß. Aber Zabel hatte vielen Kollegen seine Geschichte erzählt, und er hatte auch einem Redakteur der HNA angekündigt, dass es Anfang des Jahres wohl eine Enthüllung über Rassismus geben werde, die mit ihm zu tun habe, und hatte für diesen Fall darum gebeten, ihn anzurufen.
Als Ostdeutscher unter Westdeutschen
Als Eberle ihm auf den Kopf zusagte, dass er sich im Kulturbeirat wegen seiner Hautfarbe alleine fühle, war Zabel verstört, weil diese vergiftete Diagnose seiner Gefühlslage ganz und gar nicht entsprach. In den Netzwerken freiberuflicher und beamteter Kulturbürger und Integrationsprofis sah er sich nicht als isolierten Einzelkämpfer. Seit 2010 lebt er in Kassel, „als Ostdeutscher unter Westdeutschen“, wie er im Gespräch mit der F.A.Z. sagte. Aufgewachsen ist er in Wernigerode im Harz, sein Vater stammt aus Sambia und kam zum Studium der Agrarwissenschaften in die DDR. Seine Jugend im Plattenbau fiel in die „Baseballschlägerjahre“. Mit dem „N-Wort“ wurde er, so seine sarkastische Formulierung, „im Bildungssystem begrüßt und aus dem Bildungssystem verabschiedet“, am ersten Tag im Kindergarten und am letzten Schultag nach dem Fachabitur. In der Grundschule sorgte seine Klassenlehrerin für die Solidarität der Mitschüler, aber in der siebten und achten Klasse wurde er auf dem Schulhof an jedem Morgen mit dem Hitlergruß empfangen.
Kassel ist für ihn auch die Stadt von Walter Lübcke und der Ermordung von Halit Yozgat durch die NSU-Terroristen. An der fortgesetzten Aufklärung der Voraussetzungen rechter Mordtaten misst er den Anspruch von Kassel, Kulturstadt von Weltrang zu sein. Wenn er aus seiner Familie eingeladen wurde, wegen der Kasseler Neonazis doch lieber nach Wernigerode zurückzukehren, hat er das immer lachend abgelehnt. Als ihm jedoch in seiner Lokalzeitung auf einer halben Seite auseinandergelegt wurde, dass verboten gehöre, was er öffentlich gesagt hatte, fühlte er sich zum ersten Mal allein, als „jemand, der nicht weiß, wie es mit sich und seiner Familie weitergeht“
Selbstkritisch sagt Zabel heute, dass er im Publikum auf dem Königsplatz „massive Verwirrung“ erzeugt, als er den Rassismusvorwurf gegen den „Landgrafen“ nicht begründete. Aber warum fragte ihn die Zeitung nicht nach seinem Grund? Die Schlagzeile „Rassismus-Vorwurf verbietet sich“ bewertet Zabel als „Blaupause einer Täter-Opfer-Umkehr“.
Insinuation eines Notwehrreflexes
Eberles Deutung von Zabels Vorschlag zur Sitzungsvertretung als eines Versuchs, die Zusammensetzung des Kulturbeirats umzukrempeln, legt nahe, den Ausfall des Direktors nicht als unprovoziert zu sehen. Vielleicht gibt es in Kassel ein Publikum, das sogar einen Notwehrreflex zur Abwehr eines übergriffigen Aktivisten erkennen würde. Zabel habe die „Vertretungen mit Migrationskompetenzen erhöhen wollen“, ließ Eberle über seine Pressesprecherin ausrichten. Ein Lobbyist, der mit dem eigenen Vorsitz nicht zufrieden ist, sondern seinesgleichen nachholen möchte? Die Stichworte der Öffentlichkeitsarbeit von Hessen Kassel Heritage lassen an Donald Trumps Feldzug gegen „Diversity, Equity and Inclusion“ denken. Ritterlich, so kann man Eberle verstehen, will er sich für das Teilnahmerecht seiner Vertreterin im Kulturbeirat eingesetzt haben. Rassismus aus „Rücksichtnahme“?
Das Kunstministerium prüft den Fall dienstrechtlich und konnte Eberle, der krankgeschrieben ist, bislang nicht anhören. Kunstminister Timon Gremmels (SPD) erklärte gleichwohl vor den Kameras des Hessischen Rundfunks: „So was kann am Ende des Tages nicht ohne Sanktionen, nicht ohne Konsequenzen bleiben.“
Als die HNA nach der Online-Berichterstattung der F.A.Z. über Eberles Eingeständnis der rassistischen Beleidigung berichtete, unterblieb ein Verweis auf den zwei Tage vorher gedruckten Kommentar. Immerhin ist dieser inzwischen mit einem neuen Vorspann versehen worden. Wer den Text jetzt aufruft, mag zu dem Schluss kommen, dass die Dinge auf der Führungsebene der Kasseler Welterbeverwaltung vielleicht doch so eindeutig liegen, wie David Zabel sie in seiner Rede am 2. Februar 2025 bezeichnet hatte.