Karlsruhe erklärt Triage-Regelungen für verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat schon einmal zur „Triage“ während der Corona-Pandemie Stellung genommen: Im Dezember 2021 forderte das Gericht zum Umgang mit medizinischen Engpässen, der Gesetzgeber müsse „unverzüglich“ Vorkehrungen treffen, damit behinderte und anderweitig benachteiligte Patienten bei der Zuteilung unzureichender intensivmedizinischer Kapazitäten nicht schlechter gestellt werden.

Diese Aufforderung richte sich an den Bundesgesetzgeber, lautete damals die allgemeine Annahme in Politik, Rechtswissenschaft und Fachverbänden. Schließlich hatte das Bundesverfassungsgericht den Auftrag zum Tätigwerden aus der grundgesetzlichen Pflicht zum Schutze behinderter Menschen abgeleitet.

Also wurde der Bundestag aktiv. Im November 2022 wurde mit den Stimmen der Ampelkoalition das Bundesinfektionsschutzgesetz ergänzt. Der Gesetzgeber legte damals fest, nach welchen Kriterien Ärzte über die Zuteilung überlebenswichtiger intensiv-medizinischer Behandlungskapazitäten bei unzureichender Ressourcen, also im Fall einer sogenannten Triage, zu entscheiden haben, soweit ein Infektionsausbruch jedenfalls mitursächlich für die Notlage ist.

„Eingriff in die Berufsfreiheit“

Nun stellt sich heraus: Die Triageregelungen „sind mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig“, wie es in einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts heißt (Aktenzeichen: 1 BvR 2284/23  und 1 BvR 2285/23). Grund dafür ist die fehlende Zuständigkeit des Bundes, entschied der Erste Senat mehrheitlich. Zum umstrittenen Inhalt der Triage-Regelung hat sich das Verfassungsgericht hingegen nicht geäußert. Die Entscheidung wurde mit sechs zu zwei Stimmen getroffen.

Damit haben die Verfassungsbeschwerden von 14 Intensiv- und Notfallmedizinern Erfolg, die sich mit Unterstützung der Ärztegewerkschaft Marburger Bund gegen die Triageregelung gewehrt hatten. Mit den gesetzlichen Vorgaben für die Zuteilung intensiv-medizinischer Ressourcen habe der Gesetzgeber in die Berufsfreiheit eingegriffen. Dieser Eingriff sei wegen der fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt, entschied der Erste Senat.

Der Bund habe sich nicht auf seine Befugnis zur Regelung von Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren stützen können. Dafür sei erforderlich, dass die Maßnahmen in gewisser Weise auf Eindämmung und Vorbeugung von Infektionen gerichtet sein müssten. Nicht abgedeckt würden hingegen Maßnahmen zur Bewältigung von Infektionsfolgen.

Eine Pflegerin im damaligen Corona-Bereich des Uniklinikums Frankfurt im Dezember 2021
Eine Pflegerin im damaligen Corona-Bereich des Uniklinikums Frankfurt im Dezember 2021Lucas Bäuml

Die Triageregelungen seien „kein Instrument der Vorbeugung oder der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten“, erläutert der Erste Senat. Sie minderten Infektionsrisiken nicht, sondern bestimmten, wie ein Arzt bei nicht ausreichenden intensiv-medizinischen Behandlungskapazitäten priorisieren müsse. „Für ein reines Pandemiefolgenrecht“ fehle dem Bund jedoch die Gesetzgebungsbefugnis.

Es könne auch keine Bundeskompetenz „kraft Natur der Sache“ angenommen werden, stellt der Erste Senat klar. Dass in Fällen einer pandemischen Lage von nationaler Tragweite eine bundeseinheitliche Regelung zweckmäßiger sein könnte als eine Selbstkoordinierung der Länder, genüge nicht. Es sei auch nicht erkennbar, dass allein der Bund bei unzureichenden intensiv-medizinischen Kapazitäten in der Lage wäre, wirksame Vorkehrungen gegen eine mögliche Diskriminierung behinderter Menschen zu treffen.

Beschwerdeführer zufrieden

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei „ein starkes Signal für die Bedeutung der ärztlichen Berufsfreiheit und die Einhaltung föderaler Kompetenzen“, lobte der Intensivmediziner Uwe Jansen, einer der Beschwerdeführer. Dadurch werde sichergestellt, „dass medizinisch verantwortete Priorisierungsentscheidungen nicht durch starre und realitätsferne Vorgaben des Bundesgesetzgebers eingeschränkt werden“, fügte der Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler und Generalsekretär der Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hinzu.

Der Erste Senat äußerte sich nun zwar nicht zu den Einwänden der Mediziner gegen die Zuteilungsvorgaben des Gesetzgebers. Aber gleich in seinem ersten Leitsatz zu der Entscheidung hebt das Bundesverfassungsgericht hervor, das Grundgesetz gewährleiste mit der Berufsfreiheit  (Artikel 12), dass Ärztinnen und Ärzte in ihrer beruflichen Tätigkeit frei von fachlichen Weisungen seien. Geschützt seien im Rahmen therapeutischer Verantwortung auch ihre Entscheidungen über das „Ob“ und das „Wie“ einer Heilbehandlung.

Schutzauftrag besteht fort

Die Frage ist nun, wie es politisch weitergeht. Denn der Schutzauftrag, den das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber mit seiner Triage-Entscheidung von 2021 erteilte, besteht fort. Die Politik muss also nach wie vor unverzüglich Vorkehrungen treffen, um Patienten mit Behinderungen vor Benachteiligung zu schützen, falls die intensiv-medizinischen Ressourcen zur Bewältigung einer sich stark ausbreitenden Krankheit nicht reichen.

Das Bundesverfassungsgericht weist dem Gesetzgeber keinen konkreten Weg, wie er diese Aufgabe lösen soll. Ein neuer Anlauf für eine bundesgesetzliche Regelung scheint aber nicht völlig ausgeschlossen. So verweist der Erste Senat andeutungsweise auf das Zivilrecht, für welches der Bund die Gesetzgebungskompetenz hat. Es gehe bei den gebotenen Schutzvorkehrungen gegen Diskriminierung um Regelungen, „bei denen es nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass der Gesetzgeber sie aus dem vorhandenen bürgerlichen Recht für privatrechtliche Arzt-Patienten-Verhältnisse entwickeln könnte“, schreiben die Richter.

Im Übrigen verweist das Gericht auf denkbare landesrechtliche Regelungen. Dazu heißt es in dem Beschluss, notwendige ärztliche Entscheidungen, wer im Falle einer Pandemie noch behandelt werde und wer nicht, könnten „grundsätzlich lokal nach unterschiedlichen Vorgaben getroffen werden“. Es wäre auch nicht von vornherein unmöglich, dass die Länder – soweit notwendig – im Wege der Selbstkoordinierung durch eine gegenseitig abgestimmte Gesetzgebung eine praxistaugliche Regelung treffen. Selbst wenn eine Übereinkunft der Länder zu einem bestimmten Mindestmaß an Regelungen unverzichtbar sein sollte, wären hierfür Vorgaben des Bundes nicht zwingend notwendig.