
Ist Friedrich Merz überschätzt oder unterschätzt? Die Frage wird gestellt, seit er vor sieben Jahren auf die bundespolitische Bühne zurückgekehrt ist, und stets hing die Antwort vom Zeitpunkt ab. Der jeweilige Moment entschied zwischen Können und Nichtkönnen, zwischen Erlöser und Loser, zwischen Groß und Klein.
Jetzt also wieder groß. Oder doch nicht? Am Mittwoch präsentierte Merz mit seinen neuen Mitstreitern von der SPD den Koalitionsvertrag, nach einer – für Berliner Verhältnisse – kurzen Verhandlungszeit. Er hat sein Ziel erreicht. Er wird wohl Kanzler werden, und dieses Amt erarbeitet sich niemand ohne Qualitäten. Innerhalb von vier Wochen führte Merz zwei Parteien zusammen, die sich nach der Ära Merkel fremd geworden waren. Die Kritik an seiner Verhandlungsführung war unüberhörbar, aber Merz zeigte sich unbeeindruckt; zu Helmut Kohls Zeiten hätte man gesagt: Er saß sie aus.
Das ist nicht wenig. Eine handlungsfähige Regierung zu schmieden, muss unter den gegebenen Umständen als Gewinn verbucht werden. Wäre Merz daran gescheitert, hätte sich Deutschland, inmitten weltpolitischer Umwälzungen, in einer prekären Lage befunden. Neuwahlen wären denkbar, wenn nicht unausweichlich geworden, womit sich die politische Paralyse, die seit Monaten anhält, verlängert hätte. Das wendete Merz ab.
Ohne Einschnitte und „Mentalitätswechsel“
Doch in der Sache ist das Ergebnis, das er vertritt, dürftig und auch teuer erkauft. Im Laufe der Verhandlungen verlor die Union so viel Zustimmung in der Bevölkerung, wie die AfD hinzugewann. Am Tag der Präsentation wurde die Union in einer Umfrage zum ersten Mal in der Geschichte des Landes von einer Partei überholt, die rechts von ihr steht. Merz’ Koalition will „Verantwortung für Deutschland“ übernehmen, was so naheliegend wie banal ist, aber die Ansage begann ohne Paukenschlag. Vergebens warteten viele Wähler auf eine Rede, die Neuanfang signalisiert. Keine Ankündigung schmerzhafter Veränderungen, kein Appell an einen „Mentalitätswechsel“, der noch vor Kurzem zum Repertoire des Kandidaten gehört hatte. Die schwerste Zumutung, die Merz den Bürgern abverlangte, steckte in dem Nebensatz, auch mal „unbequeme Entscheidungen“ treffen zu müssen.
Was hatte Merz nicht alles versprochen: Parteien, die den Politikwechsel nicht mittrügen, würden bei der Regierungsbildung „am Wegesrand stehen bleiben“. Jetzt steht die Partei, die den Status quo wie keine zweite verteidigt, nicht einsam an der Peripherie, sondern im Zentrum der Macht. Sieben Ministerien dürfen die Sozialdemokraten leiten – die Union, die fast doppelt so viele Stimmen erhielt, bekommt zehn.
Verdächtig vieles erinnert an früher, als die da noch „große Koalition“ in ihrer Vertragspräambel die gleiche „Erneuerung“ versprach und danach die Widersprüche in Formeln auflöste. Bis in die Redefiguren hinein gleicht der „starke Plan“, der sich im Vertrag verstecken soll, den Vereinbarungen früherer Jahre. „Das Wahlergebnis hat gezeigt, dass viele Menschen unzufrieden und verunsichert sind. Daraus ziehen wir mit dem vorliegenden Koalitionsvertrag die entsprechenden Schlüsse.“ So hieß es 2018. Heute klingt es so: „Viele Bürgerinnen und Bürger sind unzufrieden. Wir verstehen das Wahlergebnis als Auftrag.“
Ein AfD-Politiker postete am Tag des Verhandlungsdurchbruchs eine Karikatur, auf der ein zufriedener Lars Klingbeil einen Hund mit Merz-Gesicht an der Leine führt. Das war mäßig originell, und es übertrieb auch den Ausgang der Verhandlungen. Die Union hat sich nicht degradieren lassen, sie ist nur im Großen und Ganzen wieder dort angekommen, wo sie 2021 aufgehört hatte: in der festbetonierten Mitte, die sich in Deutschland nur mit der Planierraupe verschieben lässt. Von einem „lähmenden Gefühl in der Partei“ spricht ein CDU-Mann, der Merz seit gemeinsamen Bundestagszeiten unter Kohl kennt.
Merz und die Neunzigerjahre – eine Ewigkeit ist es her, und doch war schon dieses erste politische Leben geprägt von der Dialektik des öffentlichen Eindrucks. Er galt damals als beides: Reformer und Hüter der alten Ordnung. Finanzpolitisch beschlagen und rhetorisch begabt, wurde er von Wolfgang Schäuble gefördert und brachte es in nur sechs Jahren vom einfachen Abgeordneten zum Fraktionschef. Merz war damals „der Konservative“ unter den CDU-Nachwuchsstars, auch kulturell. Die Rebellion der „jungen Wilden“ um Norbert Röttgen und Peter Altmaier, die ihre Partei im grünen Lager anschlussfähig machen wollten, interessierte Merz nicht. Er bohrte an anderer Stelle am Ancien Régime, in Strukturfragen, bei Steuern und Sozialsystemen.
Sein jähes Karriereende brachte erstmals die Frage auf, wo Überfliegertum in Underperformance umschlägt. Nach nur zwei Jahren musste Merz den Posten an der Fraktionsspitze für Angela Merkel räumen. Anders als ihr Widersacher hatte Merkel nicht nur auf ihre Fähigkeiten vertraut, sondern sich – lange vor der Kampfabstimmung – die Mühe gemacht, Gefolgschaft aufzubauen.
Die Ambivalenz als Schatten
Von Aufs und Abs war dann auch Merz’ Comeback geprägt. Zweimal unterlag er beim Kampf um das höchste Parteiamt, auch weil er im entscheidenden Moment den richtigen Ton verfehlte. Der Mann sei offensichtlich überschätzt, hieß es damals. Als er, fast unverfroren, ein drittes Mal antrat und dabei auch noch siegte, hieß es: Chapeau! Man dürfe den Mann eben nicht unterschätzen.
Diese Ambivalenz begleitet ihn wie ein Schatten. Kaum war Merz Parteichef, meldeten sich „Parteifreunde“ zu Wort und weckten Zweifel an dessen Eignung. Er verlasse die politische Mitte, hieß es in Düsseldorf. Er verprelle unnötigerweise die Grünen, hieß es in Kiel. Ihm fehle Führungserfahrung, hieß es in Berlin. Doch die Kritiker täuschten sich. Merz gab der CDU eine konservativere Note, ohne die Mitte preiszugeben. Er erweiterte den Abstand zu den Grünen, ohne Brücken abzubrechen; als es darum ging, sie für die Schuldenaufnahme zu gewinnen, gelang ein Kompromiss. Merz mag nie ein Ministerium geführt haben, aber er richtete in nur zwei Jahren eine Volkspartei auf wichtigen Politikfeldern neu aus, ohne dass der Laden auseinanderflog.
Als Merz im vergangenen Herbst die Nagelprobe bestand und seine Kanzlerkandidatur gegen CSU-Chef Markus Söder ohne bleibende Schäden durchsetzte, stand er erstmals unangefochten an der Spitze. Wieder hieß es: Der Mann hat es drauf! Doch fünf Monate später ging die Schleife von vorne los. Keine dreißig Prozent erreichte Merz bei der Bundestagswahl. Konnte er es doch nicht? War das schwache Wahlergebnis die Quittung für einen Wahlkampf, in dem er streckenweise opportunistisch, sprunghaft und getrieben wirkte?

Manche in seiner Partei, nicht zuletzt im Osten Deutschlands, sehen Merz als Opfer einer strategischen Fehlentscheidung. Indem er nicht nur jede Zusammenarbeit mit der AfD ausschloss, sondern auch eine Minderheitsregierung, habe er sich in eine fast ausweglose Lage gebracht. Er musste einen Politikwechsel versprechen, ohne erklären zu können, wie dieser mit SPD oder Grünen gelingen sollte. Je klarer das wurde, desto lauter intonierte Merz die Wende, um am Ende ohne Alternativen mit der SPD zu verhandeln, die das ungerührt ausnutzte.
Andere, unter ihnen frühere Merkelianer, problematisieren nicht die strategische Ausrichtung auf die Parteien der demokratischen Linken, sondern Merz’ Versprechen einer Politikwende. „Die Sehnsucht nach CDU pur zu schüren, war völlig überdreht“, sagt ein CDU-Mann. Es sei ein Fehler gewesen, die Grünen zu dämonisieren und auch noch zu versuchen, seinen Migrationsplan mit den Stimmen der AfD durchzusetzen. Statt zu posieren, hätte sich Merz gewissenhafter auf die Verhandlungen vorbereiten sollen.
Beide Schulen treffen sich in einem Punkt: Sie wundern sich nicht über einen Koalitionsvertrag, der weite Teile der Wählerschaft enttäuscht und Merz mit einer Hypothek ins Amt starten lässt, deren Belastung schwer abschätzbar ist. Vor allem mit dem vorgeschalteten Schuldenpaket hatte Merz, wie er selber nicht ohne Wortwitz festhielt, einen hohen Kredit auf seine Glaubwürdigkeit genommen.
„Dröhnendes Schweigen“ zu drängenden Fragen
Dass er diesen mit dem Koalitionsvertrag abgetragen habe, behaupten nur die Politikverkäufer der Union. Der erreichte Kompromiss verändert die politische Richtung, nicht zuletzt in der Migrationspolitik, aber er ist weit entfernt von der „Beendigung der bisherigen Wirtschaftspolitik“, die Merz in Aussicht gestellt hatte. Die Steuerentlastung für Unternehmen ist minimal, an den wachsenden Lohnnebenkosten wird sich nichts ändern, Finanz- und Arbeitsministerium sollen von der SPD geführt werden. Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, beileibe kein Disruptionsjünger, kritisierte den Vertrag als „Kompromiss, der den Status quo weitgehend beibehält und zentrale Zukunftsfragen unzureichend adressiert“.
Der CDU-Veteran Peter Müller, auch er kein Flügelstürmer, bescheinigte dem Koalitionskonsens, „zu drängenden Fragestellungen dröhnend zu schweigen“. Wäre Merz in dieser Woche wie geplant zum Frühjahrsempfang der Jungen Union gekommen, hätte er eine Jugend in Aufruhr erlebt. Sollte „der überfällige und versprochene Politikwechsel“ nicht kommen, nehme das Land „massiven Schaden“, hatte ihm JU-Chef Johannes Winkel vor Abschluss der Gespräche zugerufen. Jetzt muss auch Winkel das Kompromisspapier schönreden.
Ein strahlender Beginn sieht anders aus, aber vielleicht hat Merz das einkalkuliert. Die Machiavellisten in der Partei wissen, dass verhandelte Spiegelstriche vergessen sind, wenn die Dramatik des politischen Regierungsalltags die Regie übernimmt. Selten startete ein Bundeskanzler in eine derart aus den Fugen geratene Welt. Der Augenblick der Bewährung beginnt erst. Einige sagen, Merz sei der Einzige im überschaubar gewordenen Tableau politischer Führungspersönlichkeiten, der das „Rückgrat“ habe, das Land durch die geopolitischen Umbrüche zu steuern. Andere, die sich als mindestens so geeignet betrachten, halten es für „offen“, ob sich Merz der Herausforderung gewachsen zeigen wird.
Belesen, impulsiv, kosmopolitisch
Merz ist enigmatisch geblieben. Viele sehen ihn als analytischen Politiker, der auf der Grundlage breiter historischer Bildung belastbare Urteile fällt. Vor einem CDU-Kollegen argumentierte er unlängst mit Uwe Wittstocks Geschichtsbuch über die „Flucht der Literatur“. Anderen scheint sein Wesen von Impulsen bestimmt. Merz’ trumpartige Ankündigung, am Tag eins seiner Amtszeit einen Einwanderungsstopp zu verfügen, wird als unmittelbare Reaktion auf den Anschlag von Aschaffenburg interpretiert: Merz, Vater und Großvater, sei erschüttert gewesen von dem Mord, den ein Asylbewerber an einem Kleinkind beging, und danach „in einem Tunnel verschwunden“.
Wie viel weiß man eigentlich über Merz’ innere Verortung? Ein Sauerländer und katholischer Jurist wird schon aufgrund dieser Merkmale als Mann mit Bodenhaftung eingeordnet. Aber Merz erfreut sich auch am kosmopolitischen Zirkus und hebt gerne ab, nicht zuletzt im eigenen Flugzeug. Mal predigt er Augenmaß, mal erklärt er eine Idee für so alternativlos, dass er jeglichen Kompromiss ausschließt. Weil er beides mit derselben Überzeugungskraft vortragen kann, droht dieselbe manchmal zu leiden.
Im politischen Berlin gibt es viele, die klarer zu lesen sind, die mehr Herzen öffnen oder routinierter mit dem Betrieb umgehen, aber wenige, die sich im Format mit Merz messen können. Fundierter Generalismus ist keine Gewähr, aber auch keine Belastung für eine erfolgreiche Kanzlerschaft. Bald läuft die Phase der vorläufigen Urteile aus.