
Kanada steht vor Neuwahlen. Noch vor einigen Monaten galten die Liberalen von Justin Trudeau als chancenlos. Dass sein Nachfolger, Premier Mark Carney, plötzlich auf einen Sieg hoffen kann, liegt an den Drohungen eines mächtigen politischen Gegners. In Europa macht man sich bereits Hoffnungen.
Kanadas Premierminister Mark Carney gab sich demonstrativ zuversichtlich. Seine Partei werde die Neuwahl am 28. April gewinnen und weiter die Regierung stellen. „Die nächste Wahl wird eine der folgenreichsten in unserem Leben sein“, schrieb Carney auf seinen Social Media-Kanälen.
Obwohl der 60-Jährige erst seit rund zwei Wochen als Parteichef der Liberalen und Premierminister im Amt ist, ist sein Optimismus berechtigt. Die liberale Partei hat in kurzer Zeit eine atemberaubende Wende hingelegt – für die der neue Regierungschef nur zum Teil verantwortlich ist.
Carney hatte das Zepter Mitte März von seinem Vorgänger Justin Trudeau übernommen. Eine Dekade lang war der aus einer Politiker-Dynastie stammende Trudeau der „Sonnyboy“ und Hoffnungsträger der Liberalen und Progressiven mit internationaler Strahlkraft gewesen. Er gewann drei Wahlen in Folge und diente fast zehn Jahre lang als Regierungschef Kanadas.
Dann folgte der Absturz. Nach mehreren Skandalen wegen persönlicher Verfehlungen, vor allem aber wegen des Unmuts über die grassierende Wohnungsnot und die historisch hohen Lebenshaltungskosten sank die Zustimmung für Trudeau auf einen Tiefstand. Nur 16 Prozent der Wähler wollten den Liberalen Ende 2024 noch ihre Stimme geben. Der wegen seiner Schwäche für Selbstdarstellung „Prime Minister Selfie“ genannte 53-Jährige entschloss sich zum Rückzug.
Im März 2025, kaum vier Monate später, liegen die Liberalen bei erstaunlichen 42 Prozent und damit je nach Meinungsinstitut bis zu fünf Punkte vor den Konservativen. Dabei hatte die Partei von Herausforderer Pierre Poilievre, der mit einer „Canada First“-Agenda wirbt, die Umfragen zeitweise mit 30 Punkten Vorsprung angeführt.
Strafzölle und Gebietsansprüche aus den USA
Der Grund für diesen Umschwung liegt südlich von Ottawa, in der US-Hauptstadt Washington. Schon bevor Donald Trump am 20. Januar erneut ins Weiße Haus einzog, hatte er den Nachbarn im Norden mit Strafzöllen gedroht, weil sie aus Sicht des Republikaners nicht genug gegen den angeblich enormen Zustrom von Migranten und Schmuggel von Drogen, insbesondere Fentanyl, in die USA unternähmen. Zahlreiche Studien und Statistiken belegen, dass diese Vorwürfe nicht der Realität entsprechen.
Noch mehr Unmut zog Trump aber mit seiner unverblümten und mehrfach hervorgebrachten Forderung auf sich, Kanada könne sich als „51. Bundesstaat“ gerne den USA anschließen. Das Land müsse dann auch „gar keine Zölle mehr bezahlen“. Trudeau, mit dem Trump von jeher Antipathie verband, belächelte der Republikaner regelmäßig als „Gouverneur“, als handle es sich bei dem Premierminister ohnehin nur um den Regierungschef eines Bundesstaates.
Kurz nach seinem Amtsantritt machte Trump seine Drohung über Strafzölle wahr. Nach einer kurzen Gnadenfrist traten Anfang des Monats Zölle in Höhe von 25 Prozent auf alle Importe aus Kanada in Kraft. Nachdem die kanadische Provinz Ontario erwogen hatte, deshalb die Stromlieferungen an mehrere US-Bundesstaaten einzustellen, drohte Trump zeitweise sogar mit 50 Prozent Strafzoll. Kein Land gehe so „hinterhältig“ mit den USA um wie die Nachbarn im Norden, wütete der 78-Jährige.
Trumps Wut entzündet sich nicht zuletzt an Carneys robustem Gegenhalten. Dabei war der neue Premierminister bis dato nur Beobachter des politischen Betriebs gewesen, hatte bisher kein politisches Amt inne. Von 2008 bis 2012 leitete er die kanadische Zentralbank, anschließend war er von 2013 bis 2020 Gouverneur der Bank of England.
Der seriöse Technokrat im perfekt sitzenden Anzug lässt sich als Premierminister nicht auf die Provokationen seines Herausforderers ein. Trumps Territorialansprüche bezeichnete Carney als „verrückt“, und beklagte „fehlenden Respekt“. Er antwortet lieber mit dem knallharten Durchsetzen von Gegenzöllen.
Im Konflikt mit Trump, dessen rabiates Auftreten viele Kanadier vor den Kopf stößt und eine Welle des Patriotismus ausgelöst hat, profitiert Carney noch von einem weiteren Vorteil. Viele Kanadier scheinen es zu goutieren, dass er sich – wie schon sein Vorgänger Trudeau – so entschieden gegen die Seitenhiebe aus Washington zur Wehr setzt.
Konservative haben Schwierigkeiten, sich von Trump abzugrenzen
Dem konservativen Herausforderer Pierre Poilievre fällt das schwerer. Er wurde in Kanada wegen seiner scharfen Positionierung gegen die „Woke“-Ideologie und der harten Kritik an angeblichen „Fake News“, die zuweilen der Trump-Rhetorik ähnelte, immer wieder als kanadische Version des US-Präsidenten beschrieben. Diese Zuschreibung könnte ihm nun zum Nachteil gereichen. Im Gegensatz zu den Liberalen, die ein Momentum erleben, hat Poilievre mehr Schwierigkeiten, sich glaubhaft von Trump abzugrenzen.
Von hoher Symbolkraft war auch, dass Premierminister Carney entgegen der Tradition zum ersten Amtsbesuch nach Europa reiste – und nicht in die USA. In Paris und London versicherte er den Nato-Partnern, Kanada sei „der europäischste aller nicht europäischen Staaten“.
Seit dem Eklat im Weißen Haus, der bei den Verbündeten die Angst vor einem Rückzug der USA aus den gemeinsamen Verpflichtungen befeuerte, rücken die europäischen Staaten und Kanada dichter zusammen. Schon Trudeau hatte in den letzten Wochen seiner Amtszeit mit Besuchen in der Ukraine und in Brüssel Solidarität demonstriert, Carney führt diese Politik fort und stimmt sich bei der Ukraine-Unterstützung eng mit den europäischen Partnern ab.
Mit der EU verhandelt Ottawa derzeit über die Beteiligung Kanadas an einer europäischen Initiative zur Herstellung europäischer Kampfjets und anderer militärischer Ausrüstung. Beide Seiten versprechen sich davon, ihre Industrien zu stärken und die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu verringern. Wie die „New York Times“ unter Berufung auf mit der Angelegenheit vertraute Beamte berichtet, würden „detaillierte Gespräche über die Einbindung Kanadas in die neue Verteidigungsinitiative der Europäischen Union“ geführt.
Kanada könne Industrieanlagen für die europäische Rüstungsproduktion bereitstellen, heißt es, etwa für den Bau europäischer Waffen wie des schwedischen Kampfflugzeugs Saab Gripen. Der Kampfjet wird als Alternative zum amerikanischen F-35-Jet gehandelt, von dem befürchtet wird, dass er wegen der amerikanischen Hoheit über die Software zum Sicherheitsrisiko werden könnte. Kanada sucht laut einem Bericht des Senders CBC News nach Alternativen für den Kauf von F-35-Kampfjets und führt bereits Gespräche mit anderen Herstellern.
Auf die Frage, wann er Trump treffen würde, entgegnete Carney vor wenigen Tagen: „Ich freue mich darauf, zum gegebenen Zeitpunkt eine Diskussion zwischen zwei souveränen Nationen zu führen, die umfassend ist und sich nicht nur auf ein einzelnes Thema konzentriert.“
Ob Carneys staatsmännisches Auftreten bei den Wählern in Kanada ankommt und auch über die Trump-Aversionen hinausgeht, wird sich jetzt zeigen. Bis zu den Wahlen am 28. April bleiben noch einige Wochen. Innen- wie außenpolitisch sind die Herausforderungen riesig, und Trumps Zölle belasten Kanadas Wirtschaft und Verbraucher enorm.
Stefanie Bolzen berichtet für WELT seit 2023 als US-Korrespondentin aus Washington, D.C. Zuvor war sie Korrespondentin in London und Brüssel.