Kampf gegen Krebs: „Hirngespinste“ von Posaunist Uwe Dierksens


Ein Abend über Krebs, Krankheit, Sterblichkeit? Es gibt sicher leichtere Kost. Aber die Offenheit, mit der Uwe Dierksen, Posaunist beim Ensemble Modern, mit seiner Ärztin Elke Jäger über seine Erkrankung und vor allem dem Umgang damit spricht, ist nicht nur für Betroffene sehr lehrreich. Dazwischen sind Stücke aus Dierksens „Hirngespinste/Pipe­dreams“ zu hören, uraufgeführt 2023 als inszeniertes Konzert in der Volksbühne, und nun als Album erschienen. 17 Musikstücke, die sich mit verschiedenen Stufen einer Krankheit auseinandersetzen.

Was denn die Absicht des Abends sei, fragt ein Zuschauer. Dierksen überlässt die Antwort den Anwesenden. Um eine Erfahrung zu teilen, die vielen Angst macht, möchte man antworten. Vielleicht auch jenem Besucher, der frühzeitig geht, weil ihm das mutmaßlich alles zu viel wird. Dierksen, Komponist und Musiker, erträgt seine Krebserkrankung schon seit Jahren. Wie er sie immer wieder in Schach hält, seinen Lebensmut stärkt, um „Herr im Haus“ zu bleiben, das zeigt er musikalisch, aber auch im Gespräch, moderiert von HR-Redakteur Stefan Fricke, an diesem Abend, der in der Reihe „Offene Ohren“ stattfindet, in der Ensemble-Mitglieder einem Kreis der Freunde eigene Projekte vorstellen.

„Change your attitude“

Die „Hirngespinste“ beschreiben Krankheitserlebnisse, aber nicht nur die des Komponisten. „Jeder kann in einen Ausnahmezustand geraten“, sagt der Künstler. Sei es durch einen Unfall, einen Schicksalsschlag – oder eben Krebs. Und dann? Wie mit einem niederschmetternden Befund umgehen, der die Lebensgewissheiten in Frage stellt? „Ändern kann ich nichts, aber ich möchte meine Souveränität behalten“, sagt der Musiker. Die Einstellung zu seiner Krankheit sei entscheidend für ihn. „Change your attitude“ hat er ein Stück benannt, das sich damit auseinandersetzt. Es sei eines ihrer Lieblingsstücke auf dem Album, sagt Elke Jäger.

Die Onkologin ist Chefärztin am Krankenhaus Nordwest, und weiß, dass jene Patienten am meisten mit ihrem Zustand hadern, die ihn ständig mit ihrer gesunden Vergangenheit vergleichen. Der Blick auf das, was möglich ist, was schön ist und bleibt, verhelfe dagegen zu mehr Lebensqualität.

Auch Dierksen hat das so erlebt. Diesen Ausnahmezustand, der nur noch Reaktionen verlangt – auf Therapien, Behandlungsoptionen, Verhaltensempfehlungen – , und dem gegenüber man sich machtlos fühlt. „Aber es ist auch eine Chance, bewusst zu entscheiden, wie ich Tag und Nacht verbringen will.“ Vielleicht, so sagt er, sei er dadurch auch zu einer anderen Qualitätsstufe des Lebens gelangt.

Musik ist Dierksens Instrumentarium, um mit seiner Krankheit umzugehen. Das Lied „Gelbgesicht“ ist ein Gespräch mit einem Infusionsbeutel der Chemotherapie, der tropfenweise Gift an den Patienten abgibt. Der sich dann vorstellt, wie sich der Wirkstoff im Nahkampf mit den Krebszellen schlägt. Wie dieser Kampf im Körper des Kranken tobt, ihn dabei auszehrt. Nach einer Chemotherapie sei er in den Keller gegangen und habe angefangen, die Musik zu schreiben. „Und das war toll, weil man dabei mitten im Leben ist“, sagt Dierksen.

Anleihen beim Autor Wolfgang Herrndorf

Im Stück „Signalstörung“ beschreibt die Musik schrill und schräg das Chaos im Kopf, das ein Befund auslöst, den man noch gar nicht richtig erfassen kann. Textlich macht Dierksen dabei Anleihen beim Autor Wolfgang Herrndorf, dessen Arzt ihm nur drei Monate Lebenszeit prophezeit hatte. Eine Aussage, die Onkologin Jäger nicht stehen lassen will: Ein Arzt mache es sich zu leicht, wenn er solche Prognosen abgebe, mit denen dann der Patient leben müsse: „Damit wird so viel Lebensenergie auf das Abzählen von Zeit verschwendet“. Ein Arzt müsse die Unsicherheit der Patienten aushalten können. Eine Therapie habe Phasen, müsse ausprobiert und angepasst werden und könne, selbst wenn es keine Heilung gebe, das Leben verbessern, um den Patienten so gesund wie möglich werden zu lassen.

Was die „Hirngespinste“ bewirken? „Sie haben es mit ihrer Kunst geschafft, das Chaos im Kopf anschaulich werden zu lassen, es für andere vorstellbar zu machen“, sagt Jäger zu Dierksen. Die Onkologin kennt die stumme Verzweiflung, die manche Patienten nach einer Diagnose befällt. Was kommt auf mich zu, wie kann ich damit umgehen? Krebs sei immer noch ein Tabu, das im Alltag keine Rolle zu spielen solle.

Kunst, davon ist Jäger überzeugt, kann hilfreich sein – als Türöffner zu Emotionen. In Kooperation mit dem Städel hat sie Museumsführungen und Malkurse für ihre Krebspatienten initiiert und hat dort Patienten erlebt, die in fremder Umgebung frei über ihre Krankheit sprechen konnten, weil die Erwartung der Angehörigen und der Ärzte, was zu sagen und was zu verschweigen sei, wegfalle.

Wann immer die Musik des Albums an diesem Abend den Raum erfüllt, spürt man die Sehnsucht nach mehr Zeit, um all das zu komponieren und zu spielen, was es noch zu sagen, was es noch zu lieben und zu leben gilt. Die Musik spricht von Verlust, von Hoffnung, von skurrilen Erlebnissen und tiefen Empfindungen. Die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit ist unvermeidbar. Und es bedarf nicht nur viel Kraft und Mut, sondern auch der Kunst, sich ihr zu stellen.