
In der argentinischen Stadt Santiago del Estero fand im Juni 2021 ein Fußballspiel statt, das fast kein Mensch im Stadion sehen konnte, weil fast kein Mensch ins Stadion durfte. Staatliche Anordnung mit Verweis auf SARS-CoV-2, Variante Delta. Man weiß aber, dass dort an dem Abend die Nationalmannschaft aus Argentinien gegen die Nationalmannschaft aus Chile gespielt hat. Man weiß, dass das Spiel 1:1 ausgegangen ist. Man weiß, dass Lionel Messi schon sehr früh das Führungstor für Argentinien geschossen hat. Und man weiß, wer seine zehn Mitspieler waren, die sich danach wieder mit ihm in der eigenen Spielfeldhälfte aufgestellt haben.
Das ist auch schon alles, was man wissen muss, wenn man einen entscheidenden Grund angeben will, warum Argentinien dann die Weltmeisterschaft 2022 gewonnen hat. Und warum es für Deutschland schwerer werden dürfte, als es sowieso schon werden wird, die Weltmeisterschaft 2026 zu gewinnen.
Im Stadion in Santiago del Estero durfte der argentinische Nationaltrainer Lionel Scaloni seine Mannschaft damals das erste Mal seit November 2020 für ein Spiel aufs Feld schicken. Doch so unsicher vieles zehn Tage vor dem Start der Südamerikameisterschaft, der Copa América, wegen der Delta-Variante des Coronavirus war, so sicher schien sich der Trainer Scaloni seiner Sache aus sportstrategischer Sicht zu sein. Weil er wusste, wer seine Alpha-Spieler sind.
Nationalelf beim Publikum wieder nach vorne gebracht
Auf dem Pfad zum ganz großen Ziel, zur Fußball-Weltmeisterschaft, hat Scaloni seine Mannschaft in den nächsten Monaten dann noch 23 Mal aufs Feld geschickt. Die Bilanz: 18 Siege und fünf Unentschieden – einschließlich des ersten Finalsieges für Argentinien bei der Copa América seit 1993. Und als dann im November 2022 endlich das erste Spiel der WM anstand, suchte er für seine Startformation acht Spieler aus, die er schon damals in Santiago del Estero für die Startformation ausgesucht hatte. So war der Sieg der Argentinier dann auch das Ergebnis einer Pfadabhängigkeit.
Die deutsche Mannschaft, die Julian Nagelsmann an diesem Donnerstag (20.45 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Nations League und in der ARD) in Mailand für das erste Viertelfinalspiel der Nations League gegen Italien aufs Feld schicken wird, dürfte eher eine Delta- als eine Alpha-Formation sein. Es ist nun nicht so, dass der Bundestrainer mit Blick auf die WM 2026 nichts weiß. Er weiß, dass die Abwehrspieler Antonio Rüdiger und Jonathan Tah für Stabilität sorgen sollen. Er weiß, dass sowohl Jamal Musiala als auch Florian Wirtz und Kai Havertz (beide fallen gegen Italien aus) für das Außergewöhnliche sorgen können. Und er weiß auch, dass Joshua Kimmich sicher spielen wird – wobei die Unsicherheiten sich schon daran erkennen lassen, dass offen ist, wo der Kapitän dann wirklich spielen wird.
In diesem März hat Julian Nagelsmann im F.A.Z.-Interview gesagt, dass Fußball für ihn „immer auch Emotionalität“ sei und dass das auch „der Punkt“ sei, „der die Nationalelf wieder beim Publikum nach vorne gebracht hat“. Und emotional, da hat er ganz gewiss einen Punkt, scheint seine Nationalmannschaft so gut gerüstet wie lange nicht mehr. Er hat dann aber auch gesagt, dass eine Top-Mannschaft eine sei, die es schaffe, „die Emotionalität auf drei, vier taktische Varianten umzusetzen“. Man kann nun sicher darüber diskutieren, wie diese Varianten aussehen könnten. Doch sollte man nicht erst darüber diskutieren, welche Spieler sie eigentlich umsetzen sollen?
Sind Baumann und Nübel gut genug?
Die Diskussion finge schon im Tor an. Wird Marc-André ter Stegen, der im vergangenen September einen Patellasehnenriss erlitt, wieder der Torhüter von Weltklasseformat werden, der er vor der Verletzung war? Sind seine Stellvertreter Oliver Baumann, der am Donnerstag und am Sonntag in der Startformation stehen wird, und Alexander Nübel für den Fall der Fälle gut genug? Die Diskussion würde sich fast schon traditionell mit Blick auf die Besetzung der Außenverteidigung fortsetzen. Und sie könnte sich weiter zuspitzen, wenn der Bundestrainer feststellen sollte, dass er Kimmich doch in der Mittelfeldmitte braucht. Dort, wo im modernen Fußball Takt und Tempo bestimmt und damit auch Spiele entschieden werden. Dort, wo es in der deutschen Elf gerade eine große Lücke und keine offensichtliche Lösung gibt.

So führt diese Diskussion zu einer anderen Diskussion, die Nagelsmann aus einer berechtigten Sorge heraus angestoßen hat: dass alle Spieler, die WM-Spieler sein möchten, in ihren Klubs auch Woche für Woche spielen müssen, um WM-Spieler werden zu können.
Zurück zur Mitte. Am Beispiel der Argentinier, aber auch der Spanier kann man sehen, dass man dort selbst spontan etwas anpassen kann. Der argentinische Trainer Lionel Scaloni stellte in der WM-Vorrunde fest, dass er die sogenannte Sechser-Position, wo er lange Leandro Paredes vertraute, mit dem Energiespender Enzo Fernández updaten sollte. Und der spanische Trainer Luis de la Fuente musste im Finale der Europameisterschaft Rodri, den Superprozessor seines Teams, ersetzen. Doch diese Eingriffe waren nur deswegen erfolgreich, weil das System der Mannschaften ansonsten so stabil lief.
Im F.A.Z.-Interview ist Nagelsmann auch auf die spanische Mannschaft angesprochen worden, darauf, dass diese wieder State of the Art sei. „Ich finde“, sagte er, „die Spanier haben eine ähnlich interessante Mischung wie wir. Sie haben Spieler, die brutal emotional sind, wie Carvajal oder Cucurella, dann aber auch drei, vier Top-Einzelspieler und zwei, drei Figuren, die eine extreme Ruhe haben, vor allem Rodri im Zentrum. Trotzdem finde ich, dass sie gegen uns die schlechtere Mannschaft waren und letztlich auch die schlechteren Chancen hatten. Wenn die Spanier State of the Art sind, sind wir also nicht so ganz weit davon entfernt.“
Es gibt diese Gemeinsamkeiten zwischen den Deutschen und den Spaniern, aber es gibt weiterhin mindestens einen entscheidenden Unterschied: Luis de la Fuente dürfte anders als Julian Nagelsmann in diesem Frühjahr schon sehr konkret wissen, wie seine WM-Elf aussehen könnte. Und er wusste offenbar auch schon im Sommer vor der EM, wie seine EM-Elf aussehen würde. Im Finale der Nations League 2023 setzte er damals im Laufe der Partie zwölf Spieler ein, die er dann ein Jahr später auch im Finale der EM 2024 einsetzte. In Deutschland weiß man, wie das ausgegangen ist.