Jürgen Schmidhuber mahnt: Baut den KI-gesteuerten Allzweckroboter!

Die heutige Künstliche Intelligenz (KI) scheint beeindruckend. Doch sie ist nichts im Vergleich zu dem, was in den nächsten 20 Jahren kommen wird. Ich sagte das vor 40 Jahren und hatte recht. Und ich sage es heute nochmals, und in der Tat wird in 20 Jahren alles, was uns derzeit beeindruckend erscheint, im Rückblick trivial wirken. Ein wesentlicher Baustein dabei: KI-gesteuerte Allzweckroboter.

Heute reden alle über Generative KI und ChatGPT. Was viele nicht wissen: Der aktuelle Boom der „Generativen KI“ durch künstliche neuronale Netze hat seine Wurzeln Anfang der Neunzigerjahre an der TU München, insbesondere das „G“ und das „P“ und das „T“ in „ChatGPT“. Damals publizierten wir „künstliche Neugier“ durch die heute sogenannten „Generative Adversarial Networks“ (1990, nun weitverbreitet für „deepfakes“), selbstüberwachtes „Pre-Training“ für „Deep Learning“ mit langen Texten (1991, das P in ChatGPT steht für „pre-trained“) sowie unnormalisierte lineare Transformer (1991, das T in ChatGPT steht für „Transformer“). Auch das LSTM (die meistzitierte KI des 20. Jahrhunderts) entstand damals in meinem Labor an der TU München. (Hier ein Überblick auf Englisch samt Referenzen: https://people.idsia.ch/~juergen/most-cited-neural-nets.html)

Die großen KI-Profiteure sitzen in Amerika und China

Wieso sitzen dann aber heute die größten Profiteure der KI nicht in Deutschland, sondern in Amerika und China? Deutschland hat das selbst verbockt. Forschung und Kunst folgen dem Geld, doch Deutschland hat leider seit den Neunzigerjahren im internationalen Vergleich fast nichts für KI ausgegeben.

Schauen wir genauer hin: Seit den späten Neunzigerjahren ging es mit Deutschland bergab, nicht nur in der KI. 1995 besaß Deutschland laut IMF nominal noch 33 Prozent der Wirtschaftskraft der USA, heute bloß noch 16 Prozent. Japan (Ursprung der für die KI wichtigen Konvolutionsnetzwerke 1979–1988) besaß 1995 gar 72 Prozent der Wirtschaftskraft der USA, heute sind es noch 15 Prozent. 1995 waren die beiden großen Verlierer des Zweiten Weltkriegs zusammen also wirtschaftlich stärker als die USA, heute sind sie selbst zusammen nicht mal mehr ein Drittel so stark.

In der Tat, Japan (aus dem 1990 noch die fünf wertvollsten börsennotierten Firmen der Welt stammten) und Deutschland waren 1995 laut IMF wirtschaftlich nominal ungefähr so stark wie die viel größeren USA und China zusammen! Seither ging es in Wellen bergab. 2008 verfügte Deutschland nur noch über 25 Prozent der nominalen Wirtschaftskraft der USA, doch zumindest die EU als Ganzes war noch so stark wie USA und China zusammen.

Als Folge der Finanzkrise verloren Deutschlands Steuerzahler dann allerdings enorme Gelder an die USA, für die die Krise alles in allem gar keine Krise war, sondern ein großer finanzieller Gewinn, der den Bedeutungsverlust deutscher und anderer europäischer Banken nach sich zog. Seit 2015 schritt der relative Abstieg Deutschlands (und der EU) besonders rasch voran. Deutschland gab seither ganz viel Geld für Dinge aus, die wenig gebracht haben, und wurde im Vergleich zu den USA immer ärmer und unbedeutender. Und wie gesagt, Forschung und Kunst folgen eben dem Geld.

Auch militärisch war Deutschland in den Neunzigerjahren viel stärker als heute. Und selbst im Sport verdeutlichte sich der Leistungsabstieg. Bis 2006 führten deutsche Sportler häufig die olympischen Medaillenspiegel an, vor allem bei den Winterspielen. Heute laufen sie meist unter „ferner liefen.“ Selbst bei den Sommerspielen holte Deutschland 1992 noch 90 Prozent der Goldmedaillen der USA, 2024 nur noch 30 Prozent. Der kleine Nachbar Niederlande hat mehr. Warum? Weil Deutschland seine Leistungsanreize abschaffte. Beispiel: Als Schüler empfand ich den Anreiz durch das Punktesystem bei den Bundesjugendspielen enorm motivierend: Ich wollte eben der Beste in der Klasse sein. Einer von vielen Leistungsanreizen, die sang- und klanglos von irgendwelchen Politikern gelöscht wurden.

Exzellente Forscher wandern ab

Ich bilde nach wie vor exzellente junge deutsche Forscher aus. Aber die sehen hinterher oft keine attraktiven Gelegenheiten in Deutschland. Stattdessen wollen viele zu den ausländischen (zumeist amerikanischen) bestausgestatteten KI-Labors der großen Plattformfirmen, wo sie direkt nach der Doktorarbeit 350.000 Euro oder mehr verdienen können, viel mehr als ein deutscher Lehrstuhlinhaber, der ohne Sonderzulagen nur gut 100.000 Euro erhält. In den ausländischen KI-Labors stellt man den Forschern auch viel mehr Rechenressourcen zur Verfügung (ganz wichtig in der KI). Sie müssen keine Forschungsgesuche schreiben und dürfen trotzdem publizieren und sich so einen Namen machen.

Leider sieht es ein wenig so aus, als wolle oder könne mein Heimatland in diesem gnadenlosen weltweiten Wettbewerb für herausragende Talente nicht mehr richtig mithalten. Ich kann gar nicht sagen, wie schade ich das finde. Die Anreize sind falsch gesteckt: Viele der besten und teuer ausgebildeten Fachkräfte verlassen das Land und werden mit viel Steuergeld und falschen Anreizen ersetzt durch andere, die wenig zum Erfolg des Landes beitragen können. Ein sich selbst verstärkender Teufelskreis.

Welche Einwanderungspolitik würde ein rationales Land betreiben? Eine, die durch entsprechende Anreize den Durchschnitt im Lande hebt. Kommt jemand ins Land, der reicher ist als der Durchschnitt derer, die schon da sind, steigt der durchschnittliche Reichtum im Lande, und er zahlt voraussichtlich mehr in die Sozialsysteme ein, als er herausnimmt. Hat er einen höheren IQ hat als der Durchschnitt, steigt der durchschnittliche IQ. Ist er rein körperlich größer als der Durchschnitt, steigt die durchschnittliche Körpergröße. Ist er weniger kriminell als der Durchschnitt, sinken die Straftaten pro Einwohner. Kann er besser Deutsch als der Durchschnitt, steigen die Deutschkenntnisse pro Einwohner. Und so fort. Viele Politiker begreifen diese wahrhaft simplen Zusammenhänge nicht und setzen stattdessen gut gemeinte, jedoch zutiefst kontraproduktive Anreize, die die wichtigen Durchschnitte nicht heben, sondern senken, und somit dem Lande schaden.

Deutschland hat sich schon aus noch viel schlimmeren Tälern wieder hochgearbeitet. Daher bleibe ich vorsichtiger Optimist. Doch grundlegende Änderungen sind vonnöten.

KI in der physikalischen Welt steht noch ganz am Anfang

Die einzige KI, die heute gut funktioniert, ist die KI in der virtuellen Welt hinter dem Bildschirm, beispielsweise für die automatische Zusammenfassung von Dokumenten, das Erstellen von Bildern, Programmen und Powerpoint-Folien. Das nächste große Ding wird KI in der physikalischen Welt. Letztere ist jedoch viel anspruchsvoller als die Welt hinter dem Bildschirm. So ist es für KI heute recht einfach, zu lernen, wie man übermenschlich gut Schach, Go oder Videospiele spielt. Aber es gibt keinen KI-gesteuerten fußballspielenden Roboter, der mit einem kleinen Jungen mithalten kann. Es gibt keinen Roboter, der das kann, was ein Klempner kann. Das wird zwar auch irgendwann kommen, aber dafür reicht die KI-Softwareforschung nicht, nein, man muss sie kombinieren mit der physikalischen Welt der Maschinen und Roboter.

Auf 10.000 KI-Software-Firmen kommen vielleicht nur 10 KI-Roboter-Firmen. Das Feld ist also noch nicht überlaufen. Deutschland hätte hier mit seinem starken Maschinenbau also immer noch eine Chance, international führend zu werden. Allerdings schrieb ich dies schon vor sechs Jahren in meinem F.A.Z.-Artikel „KI ist eine Riesenchance für Deutschland“. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion war damals Volker Kauder. Er sagte, jeder in der Fraktion muss den Artikel lesen. Man lud mich in den Reichstag ein, wo viele berühmte Politiker sich anhörten, was ich zu dem Thema zu sagen hatte. Ich schlug vor, eine kleine Zahl von Milliarden für einen Weltklasse-KI-Campus in einer attraktiven Stadt zu schaffen, als Grundlage für weitere Investitionen. Der Vorschlag stieß auf offene Ohren, und erste Überlegungen wurden hierzu angestellt. Wenige Wochen später war Volker Kauder allerdings nicht mehr Fraktionsvorsitzender, und alles verlief im Sande. Während die großen Mächte inzwischen Hunderte von Milliarden in KI investieren, gibt Deutschland lieber Hunderte von Milliarden für Bürgergeld und noch ganz andere Dinge aus. Ich kann unseren Politikern nur empfehlen, die Leistungsanreize in diesem Land zu überdenken.

Im deutschen Maschinenbau steckt eine riesige Chance

Was kann Deutschland tun, um sich wieder aufzurappeln und eine weitere Abwanderung der Besten zu vermeiden? Wie wäre es mit einem großen, visionären, doch realistischen nationalen Projekt, das bei Erfolg wahrhaft weltverändernde Auswirkungen hätte? Nämlich: Baue einen Allzweckroboter, der lernen kann, alle von Menschen ungeliebten Arbeiten zu erledigen!

In nicht allzu ferner Zukunft wird irgendwer erstmals kostengünstig derartige intelligente (aber nicht notwendigerweise superintelligente) Roboter herstellen, mit denen man reden und interagieren kann und denen man ohne große Vorkenntnisse etwas Neues beibringen kann (Ansätze hierzu gibt es bereits). Ein Land mit solch versatilen Allzweckrobotern bräuchte sich um mangelnde Fachkräfte, sichere Rente und Bürgergeld keine Sorgen mehr zu machen.

KI-gesteuerte Allzweckroboter wären natürlich auch extrem exportfähig, da jeder gerne solche hätte, um Tausende von unbequemen Arbeiten zu erledigen. Und sie wären extrem skalierfähig, denn ein Roboter, der die Werkzeuge und Maschinen bedienen kann, die derzeit von Menschen bedient werden müssen, kann natürlich auch maßgeblich dazu beitragen, mehr von seiner eigenen Sorte zu bauen (und bei Bedarf zu reparieren). Das Land, das durch eine Kombination von Privatinitiative, Universitäten und Industriepolitik als erstes solche Allzweckroboter hervorbringt, wird die Weltgeschichte ändern. Auf geht’s, Deutschland!

Prof. Dr. Jürgen Schmidhuber zählt zu den führenden Fachleuten für Künstliche Intelligenz, die Deutschland hervorgebracht hat. Bis 1995 forschte und lehrte er an der TU München, dann wurde er wissenschaftlicher Direktor des Schweizer KI-Forschungslabors IDSIA. Seit 2021 ist er auch Direktor der KI-Initiative an der saudischen KAUST-Universität.