Jonny Burkardt: Auf den klassischsten aller klassischen Mittelstürmer des Landes

In unserer Kolumne „Grünfläche
schreiben abwechselnd Oliver Fritsch, Christof Siemes, Stephan Reich und Christian Spiller über die
Fußballwelt und die Welt des Fußballs. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 48/2025.

Meine letzten fußballerischen Sternstunden erlebte ich im
Team von ZEIT ONLINE in der zweiten Berliner Medienliga. Ein ehemaliger
11FREUNDE-Kollege hatte mich für die Sturmspitze akquiriert, da waren meine
besten Tage als Kicker zwar schon lange vorbei, wenn sie denn überhaupt je
stattgefunden hatten. Aber montagabends mit anderen Fußlahmen ein wenig der
Kugel hinterherjagen, das hatte ich ja mein ganzes Leben getan, und verdammt,
es fehlte mir. Und so kam ich in den Genuss, unter Anleitung erfahrener
Leitwölfe wie Christian Spiller oder Steffen Dobbert die Medienliga
aufzumischen. Ein, zwei Kilo runterzutrainieren, die ich beim Bierchen nach dem
Spiel direkt wieder draufpackte: des Amateurfußballs schönstes Nullsummenspiel.

Und es lief gut. In einem der ersten Spiele erreichte mich
ein langer Ball aus der eigenen Hälfte, und weil ich nicht wusste, was ich
damit machen sollte, hielt ich mit dem Rücken zum Tor irgendwie die Stirn dran,
von wo der Ball gegen den Lauf des Keepers ins lange Eck ging. „Den kannst du
dir einrahmen“, sagte Kollege Spiller zu mir beim Abklatschen. Ich hatte indes
eher das Gefühl, die Wendung „Aus Versehen“ auf den Berliner Kunstrasen getanzt
zu haben. Was war das denn für ein Ei, moserte einer der Gegenspieler, oder
vielleicht dachte ich das selbst, ich weiß es nicht mehr.

Jüngst muss ich immer mal an diese Zeit in der Medienliga
denken, weil ich jüngst Jonny Burkardt oft beim Fußballspielen zuschaue. Und:
Mir geht das Herz auf. Niemand in der Bundesliga schießt so wunderschön
hässliche Tore. Beim 4:3-Sieg seiner Eintracht in Köln hielt er erst ein langes
Bein in einen Querpass, was aussah, als sei er gerade auf einer Bananenschale
ausgerutscht. Bei seinem zweiten Treffer ließ er erst einen Abwehrspieler
per Hackentrick aussteigen, nur um dann beim Abschluss unter Bedrängnis den
Stand zu verlieren und den Ball mit der Innenseite mittig aufs Tor zu murmeln,
wo er irgendwie über das Bein von Marvin Schwäbe sprang. Und reinging. Zwei
Treffer in bester Burkardt-Manier.

In Gladbach etwa säbelte Burkardt nach leichtem Schubser im
Fallen fast am Ball vorbei, berührte ihn aber gerade genau so leicht, dass er
in Zeitlupe ins lange Eck kullerte. Wunderbar auch sein Treffer gegen St. Pauli.
Eine 40-Meter-Flanke nahm Burkardt mit der Brust runter, stellte gegen seinen
Gegenspieler den Arsch raus und kickte den Ball praktisch mit dem Schienbein
per Dropkick ins Eck. Natürlich im Fallen. Dass er sich nun verletzt hat und der Eintracht ein paar Wochen fehlen
wird, ist ein Drama für die Hessen. Und für alle, die einen Soft
Spot für Murmeltore haben.

Wenn ich drüber nachdenke, habe ich mit
Ausnahme seiner Kopfballtore noch nie einen Treffer von Burkardt gesehen, in dessen
Entstehung er nicht hinfiel. Es ist die Reinwurschtel-Masterclass, Burkardt
schießt die unbeholfensten Weltklassetore überhaupt.  

Der Stürmer gehört damit leider einer aussterbenden Spezies
an, denn ach, es wird ja mittlerweile viel zu wenig reingewurschtelt. Früher
gab es Mittelstürmer, deren praktisch einzige herausstechende Qualität es war,
den Ball irgendwie über die Linie zu drücken. Bei Bernhard Winkler sah einst
jeder Torschuss aus, als würde ein Kleiderschrank eine Treppe runterfallen. Und
wenn Ulf Kirsten in den Zweikampf ging, ahnte man eine verlorene Weltkarriere
als Ringer. Bruno
Labbadia schoss mal ein Tor des Monats, in dessen Anbahnung er zweimal umfiel

und Elfmeter forderte, nur um aufzuspringen, weiterzuwurschteln und den
Ball schließlich aus kürzester Distanz ins Netz zu dreschen. Ich habe ein Video
davon bei YouTube gesucht, aber es gibt keins. Wahrscheinlich widerspricht der
Clip den Richtlinien der Seite: zu hässlich.

Und heute? Ist das Wurschteln völlig aus der Mode gekommen.
Erst wurden die knotigen Mittelstürmer in einem Anflug der spanischen
Fußballgrippe durch falsche Neunen ersetzt: wieselige, 1,50 Meter kleine
Supertechniker, die sich so lange den Ball zupassten, bis der Gegner erschöpft
aufgab. Dunkle Jahre, in denen Thomas Müller quasi das Monopol aufs Wurschteln
hatte, was er, immerhin, echt gut machte. 

Aber als dann die klassischen
Mittelstürmer plötzlich doch wieder gefragt waren, gab es keine mehr. Für die Nationalmannschaft
ist das seit Jahren ein Problem. Selbst ein Nick Woltemade kommt ja als
polyvalenter abkippender Zehner/Neuneinhalber daher, der in irgendwelche
Halbräume ausweicht, wo ein Ulf Kirsten erst einmal einen Köpper in die
gegnerische Innenverteidigung gemacht hätte. Er tut das erfolgreich, aber
schade ist es dennoch. Zumal als optischer Wiedergänger von Rudi Völler.

Der klassischste aller klassischen Mittelstürmer des Landes ist
Jonny Burkardt. Vergisst man mal, dass der Mann ein herausragender
Pressingspieler ist, eine Anforderung, an der die Winklers und Kirstens des
Landes früher grandios gescheitert wären, zeichnet sich Burkardt durch den
altbekannten Riecher, das Näschen aus – eben das, was man nicht lernen kann und
was heute steril als „gute Positionierung in der Box“ bezeichnet werden würde. Der
Mann steht immer da, wo er stehen muss, und tut das, was nötig ist, um den
Ball irgendwie über die Linie zu murmeln. Nämlich alles. Burkard würde sich
wahrscheinlich wirklich eine Treppe runterstürzen oder auf einer Bananenschale
einen Spagat machen, wenn das Ergebnis ein Tor wäre.

Vermutlich ist er deswegen mein Lieblingsspieler
geworden: weil er mich an eine Zeit erinnert, in der noch Platz für Unbeholfenheit
im Fußball war. Heute rennen durchgestylte Supermenschen mit 36 Km/h über den
Platz und sehen dabei aus, als würden sie in ihren bunten Schuhen Schlittschuh
laufen. Pässe werden vertikal gespielt statt in die Gasse, für den silbernen
Taxofit-Koffer ist auf dem Mannschaftsfoto auch kein Platz mehr, und beim
Mannschaftsabend gibt’s Goldsteak von diesem Internetheini anstatt frisch
Gezapfte bei Gitti in der Eckkneipe. Burkardt erinnert mich daran, dass das
nicht immer so, dass dieser Sport auch mal einfacher, schlichter, dass er nahbar
und wunderschön hässlich war.

Und er hat damit Erfolg. Acht Tore in der laufenden Saison
sind Bestleistung eines deutschen Stürmers. Entsprechend hoffe ich sehr, dass
wir Jonny Burkardt 2026 bei der WM ein wenig wurschteln sehen. 

Etwa acht Tore
machte ich damals übrigens auch für die Medienliga-Truppe, bevor mein Schreibtisch-Rücken mein Karrierchen beendete. Wir stiegen in der Relegation auf, weil der Gegner
nicht zum Spiel erschien. Ein unglaublicher Triumph. An mein letztes Tor
erinnere ich mich auch noch. Im Gewühl im Fünfmeterraum trat ich
hektisch über den Ball, touchierte ihn mit der Hacke, so dass er nochmal vor mir
aufdotzte und schloss dann ungelenk auf Hüfthöhe mit der Innenseite ab,
abgefälscht ging der Ball ins Netz. Es war, wirklich, ein ganz wunderbarer
Treffer.