Einer Kommunikationsdesignerin wie Luisa Neumann würde ein Karriereberater sicherlich andere Einstiegsjobs empfehlen. Neumann heißt in Wahrheit anders, sie will in dieser Geschichte anonym bleiben, es ist ihr peinlich, dass sie sich so schwertut, Arbeit zu finden. Im August hat sie ihren Master abgeschlossen, seitdem sucht sie Arbeit. Sie sitzt mit ihrem Laptop in einem Dresdner Café und scrollt durch die vielen Bewerbungen, die sie bereits abgeschickt hat. Nachdem sie mehr als 60 Bewerbungen in ihrem Berufsfeld abgeschickt hat, bewirbt sie sich nun auf alle möglichen Jobs, neuerdings als Modellmalerin. „Man kann es sich ja nicht aussuchen in der derzeitigen Lage.“ Doch selbst die Firma, die die Kuhmodelle entwickelt, hat ihr abgesagt.

Sechs Autostunden von Luisa Neumann entfernt klappt Thomas Nußbaum seinen Laptop auf. Hier im baden-württembergischen Esslingen hat sein Ingenieurbüro drei Stockwerke in einem Bürogebäude bezogen. 200 Mitarbeiter, Projekte im ganzen Land, klassischer Mittelständler.
Über die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt? Darüber, sagt Nußbaum, könne er viel erzählen. Denn während Neumann seit Monaten eine Anstellung sucht, sucht er seit Jahren Nachwuchs für sein Büro. Drei, vier junge Ingenieure im Jahr könnten sie gebrauchen, mindestens. Einige Stellen sind schon seit Jahren ausgeschrieben. Den letzten Hochschulabsolventen haben sie hier 2023 eingestellt. Nußbaum beugt sich nach vorn, stützt die Ellenbogen auf den Tisch. „Seit ich denken kann, war es nie schwieriger, Nachwuchsingenieure zu finden.“
Der Fachkräftemangel ist größer denn je, mehr als 700 000 Fachkräfte könnten laut Prognosen des Instituts der deutschen Wirtschaft bis zum Jahr 2027 fehlen. Das Paradoxe daran: Gleichzeitig finden gut ausgebildete Berufseinsteiger wie Luisa Neumann keinen Job. Im Vergleich zum Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre sind die Stellen für Berufseinsteiger um 45 Prozent zurückgegangen, das hat eine Stepstone-Studie mithilfe der Daten von mehr als vier Millionen Stellen ausgerechnet. In diesem Jahr könnte sich die Situation nach Ansicht vieler Experten noch verschlimmern. Was ist da los auf dem deutschen Arbeitsmarkt? Fachkräftemangel und junge Arbeitslosigkeit, wie passt das zusammen?
Die Zahl der Einstiegsstellen in Deutschland sinkt
Luisa Neumann ist 27 Jahre alt, hat einen Master und Bachelor in Dresden gemacht. Abschlussnote: 1,3. Eigentlich dachte sie, jetzt kommt der erste Job. Sie scrollt durch die Anzeigen auf einer Stellenmarktseite. Jeden Morgen klickt sie auf das Suchfeld, die Suche nach einem Job ist zu ihrem Job geworden. Verkäufer Junges Wohnen (m/w/x), Möbel Höffner, lautet ein Gesuch. Küchenkraft (m/w/d) in einer Kindertagesstätte, ein anderes. Sie bewirbt sich eigentlich überall. „Ich nehme alles außer Bundeswehr.“
Viele Stellenanzeigen verlangten drei bis fünf Jahre Berufserfahrung. „Ich weiß nicht, wo ich die hernehmen soll“, sagt Luisa Neumann. Sie war ja bislang mit Studieren beschäftigt. Bisher wurde sie zu keinem einzigen Bewerbungsgespräch eingeladen. Meistens bekomme sie von den Firmen nicht einmal eine Absage, erzählt sie.
Man könne es den Unternehmen nicht verübeln, sagt Neumann, „so viele Leute, wie sich gerade in meiner Branche bewerben.“
„Wir würden sofort einstellen. Wir finden nur niemanden“, sagt hingegen der Unternehmer Thomas Nußbaum.
„Es gibt einen Mismatch auf dem Arbeitsmarkt“, sagt Anja Warning, die am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zum Arbeitsmarkt von Akademikern und Berufseinsteigern forscht. Was Unternehmen suchen, passe oft nicht zu dem, was junge Menschen mit meist wenig oder keiner Berufserfahrung bieten. Das sei einem sich schnell wandelnden Arbeitsmarkt geschuldet, aber auch der aktuellen wirtschaftlichen Lage.
Während im Gesundheitssektor und in anderen Berufsfeldern weiterhin kräftig gesucht wird, sind die Stellen für Berufseinsteiger in Gestaltungsberufen wie dem von Luisa Neumann laut Stepstone um 55 Prozent zurückgegangen. Auch im Personalwesen, in der Verwaltung und im Vertrieb schrumpft das Angebot deutlich. Gleichzeitig fehlen junge Handwerker, Ärzte, Pflegekräfte und Ingenieure.
Die meisten Unternehmen seien wegen der Konjunkturprobleme vorsichtig geworden beim Einstellen, beobachtet Warning. „Viele von ihnen haben derzeit eine Abwartehaltung.“ Wenn Unternehmen überhaupt neue Beschäftigte suchten, dann häufig nur welche mit Berufserfahrung.

Thomas Nußbaum hat sich in seinem Stuhl inzwischen zurückgelehnt. Sein Ingenieurbüro ist auf Geodäsie spezialisiert, also auf die Vermessung und die präzise Erfassung von Räumen: Straßen, Gebäuden, Leitungen, alles, was geplant, gebaut oder betrieben werden soll. An der Wand des Besprechungszimmers stehen alte Vermessungsinstrumente, Relikte aus einer anderen Zeit. Einer Zeit, in der der Nachwuchs noch kein Problem war, sagt der 62-Jährige.
Er zeigt auf den Bildschirm. Sein Mailpostfach ist voll, die neusten Nachrichten stehen oben: Initiativbewerbungen, Lebensläufe, Anschreiben. Er klickt sich wahllos durch die Mails. Vielen fehlt jeglicher Bezug zum Unternehmen oder zur ausgeschriebenen Stelle. „Es kommen Bewerbungen, aber nur wenige, die wirklich passen“, sagt er. Manchmal habe er den Eindruck, viele klickten einfach nur auf „Bewerben“, ohne zu wissen, um welche Stelle es eigentlich geht.

Liegt dieser Mismatch, also diese Nichtübereinstimmung zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt also auch an der angeblich arbeitsscheuen Gen-Z, die sich zu wenig Mühe mit ihren Bewerbungen gibt? Zwar schicken manche aus Verzweiflung vielleicht wahllos Bewerbungen raus. Die Stepstone-Umfrage zeigt jedoch: Berufseinsteiger verbringen heute mehr Zeit pro Bewerbung als noch vor fünf Jahren. Etwa sieben Stunden sind es laut der Jobbörse. Woran liegt es dann, dass sie nichts finden?
Viele haben schlichtweg die Qualifikationen nicht, die Nußbaum sucht. Früher habe es in Baden-Württemberg zwei Hochschulen mit dem Studiengang Vermessung und Geoinformatik gegeben, in Karlsruhe und Stuttgart. Doch in Karlsruhe habe man das Studienfach eingestellt, geblieben sei nur Stuttgart. „Jedes Jahr beenden nur etwa 50 Ingenieure in Baden-Württemberg den Studiengang“, sagt er. Um diese wenigen Absolventinnen und Absolventen konkurrieren alle Vermessungsbüros im Bundesland. Und selbst das sei keine verlässliche Größe, sagt Nußbaum: Niemand wisse, ob die jungen Leute überhaupt in der Region bleiben wollten.
Künstliche Intelligenz schnappt Luisa Neumann ihren Job weg
„Es gibt einen erheblichen regionalen Mismatch“, sagt Sebastian Dettmers von Stepstone. Oder anders ausgedrückt: Unternehmen suchen junge Fachkräfte häufig dort, wo diese nicht leben oder bleiben wollen. Das ist vor allem in ländlichen Regionen der Fall. Zwar liegt Nußbaums Bauingenieurbüro im Speckgürtel von Stuttgart, doch selbst hier wollen längst nicht alle Berufseinsteiger bleiben. Die Folge: Stellen in bestimmten Berufsfeldern bleiben unbesetzt, Unternehmen fangen an, um die jungen Bewerber zu konkurrieren.
Jobrad, Gesundheitsprogramme, Weiterbildung, eine „sehr gute“ Vergütung, Zulagen und Bonuszahlungen: All diese Extras für seine Mitarbeiter seien inzwischen Standard, sagt Nußbaum. Wer für den Job nach Esslingen ziehe, dem helfe das Büro sogar bei der Wohnungssuche. Trotzdem melde sich niemand Passendes auf die offenen Stellen. „Wir haben vieles probiert“, sagt er. Inzwischen arbeitet sein Büro auch mit einem externen Recruiting-Unternehmen zusammen, das Stellenanzeigen aufbereitet und über Social Media ausspielt. Früher sei er skeptisch gewesen. Heute bleibe kaum eine Alternative.
Auch Luisa Neumann hat in der Schule immer gehört, dass sich Unternehmen später um sie reißen werden. Dass sie ihre Generation mit Jobsicherheit, guten Gehältern und einem noch nie dagewesenen Wohlstand, gesegnet sein würden. Für Neumann war das Studium ein großes Versprechen. Sie ist die erste, die in ihrer Familie studiert hat. Fünf Jahre Studium, ohne dabei wirklich zu verdienen? Ihren Vater musste sie davon erst überzeugen. Später war er dann stolz auf sie, meinte, dass sie bestimmt mal das Doppelte verdienen werde als er. „Meine Eltern haben das Studium dann auf ein Podest gestellt“, sagt sie. Würde sie heute wieder Kommunikationsdesign studieren? „Mit Blick auf den Jobmarkt? Vermutlich nicht“. Vielleicht etwas anderes, ein Beruf mit Zukunft, oder sie würde gleich eine Ausbildung machen.
Luisa Neumann hat Pech. Pech, das auch damit zusammenhängt, wie rasant sich die Künstliche Intelligenz im Designbereich ausbreitet. „Gerade dort können Berufe wegfallen, während woanders wieder neue durch KI entstehen“, sagt Anja Warning vom IAB. Laut einer IAB-Studie könnten in den kommenden 15 Jahren etwa 800 000 Arbeitsplätze durch KI wegfallen. In anderen Bereichen könnten aber genauso viel neue entstehen. Ein Nullsummenspiel also.

Die Diskrepanz auf dem Arbeitsmarkt ist also eine Mischung aus KI, fehlenden Qualifikationen und der derzeitigen Weltlage. „Die Situation ist generell aber nicht so schlimm wie noch vor 20 oder 30 Jahren“, sagt Sebastian Dettmers von Stepstone. Damals, als durch die Wiedervereinigung ganze „verlorene Jahrgänge“ ohne echte Perspektive ins Berufsleben starteten. Oder um die Jahrtausendwende als die Dotcom-Blase platzte und die „Generation Praktikum“ entstand, deren Berufsalltag aus einer Aneinanderreihung von unterbezahlten Hospitanzen bestand. Und die Zeit spiele den Jungen in die Hände, ergänzt Warning. „Wenn die Boomer-Generation in den kommenden Jahren in Rente geht, ist der Arbeitsmarkt wieder ein vollkommen anderer.“
Und noch immer gilt: Je höher der Abschluss, desto seltener arbeitslos. Zwar ist die Arbeitslosenquote unter jungen Akademikern auf einem neuen Höchststand, sie sind jedoch seltener arbeitslos als beispielsweise Menschen ohne oder mit geringerer Qualifikation.
Fragt man Anja Warning vom IAB fragt, wie sich das Missverhältnis auf dem Arbeitsmarkt regeln ließe, sagt sie: „Der Markt kann das auch selbst regeln.“ Wo es zu wenig Bewerber gibt, steigen die Löhne. Dann bewerben sich wiederum mehr junge Menschen. Die Expertin warnt vor zu starken politischen Eingriffen. Das könne mittelfristig den Arbeitsmarkt verzerren und schaffe Über- oder Unterangebot.
Der Ingenieur Thomas Nußbaum und sein Team haben ihre eigene Lösung gefunden: Sie bilden den Nachwuchs inzwischen selbst zu Vermessungstechnikern und Geomatikern aus. Wer sich gut anstellt, wird ermutigt, weiterzumachen. „Studiert doch“, sagt Nußbaum, „wenn ihr fertig seid, habt ihr bei uns ein sicheres Jobangebot.“ Einen ehemaligen Azubi konnten sie bereits für ein Ingenieursstudium gewinnen. Heute hat der seinen Bachelor, studiert den Master in Berlin. Doch ob er nach dem Studium tatsächlich wieder zurückkommt, weiß niemand.
Kurz vor Veröffentlichung kommt ein Anruf aus Dresden. „Ich habe mein erstes Vorstellungsgespräch!“, ruft Luisa Neumann ins Telefon. Bei einer Firma in Berlin, die Merch für Bands macht. Dann müsse sie zwar umziehen. Aber nach mehr als 60 erfolglosen Bewerbungen wurde sie jetzt zumindest mal eingeladen.
