Dicht, dunkel, alt und so unberührt wie möglich – so sieht das Ideal aus, das viele Menschen vom Wald haben, sofern sie ihn nicht als Förster oder Waldbauer auch ökonomisch brauchen. Im hessischen Kellerwald, im Bayerischen Wald und im Schwarzwald sind ganze Nationalparkverwaltungen damit beschäftigt, den vermeintlichen Urzustand wieder herbeizuführen. In geschlossenen, unbewirtschafteten Wäldern, so die Annahme, kommt man dem Ziel, der Natur freien Lauf zu lassen, am nächsten, gibt man der Biodiversität bestmöglich Raum.
Jan Haft, der einem breiten Publikum durch seine Naturdokumentationen und Tierfilme bekannt ist, versucht seine Leser bei diesem Sentiment abzuholen, indem er sein neues Buch ganz volkstümlich „Unsere Wälder“ nennt und eine uralte Eiche aufs Cover heben lässt, neben der in weißen Federstrichen ein Rothirsch zu sehen ist. Doch was haben, deutlich schlechter sichtbar, im Hintergrund ein stämmiges Rind und ein Pferd mit kräftiger Mähne zu suchen?
Der studierte Biologe legt damit eine optische Fährte zur zentralen These seines Buchs, die er anfangs eher zaghaft, gegen Ende mit umso größerer Vehemenz vertritt: Besonders nah an der Natur sind ihm zufolge Wälder auch und gerade dann, wenn sie licht sind, allerlei Störungen unterliegen, ja sogar in die Viehhaltung einbezogen werden. Denn Europas Wälder, vor allem die auf dem Territorium Deutschlands, glichen in der Erdgeschichte auf großen Flächen eher Savannen als dem dunklen Tann aus Märchen, erfährt der staunende Leser. Verantwortlich dafür waren vor allem auch große Pflanzenfresser, vor langer Zeit etwa Waldelefanten, dann Mammuts und als letzte Vertreter der Großgrasfresser die Wisente, die vielerorts Bäume erst gar nicht aufkommen ließen, sich in Herden ihren Weg bahnten und Wasserlöcher offen hielten.
Gesäumt von blühenden Sträuchern, Rosen, Weißdorn, Schneeball
Nachdem diese Tiere aus klimatischen Gründen und durch Jagd verschwunden waren, nahmen mit den Rindern Nutztiere ihre Rolle ein. Bis vor relativ kurzer Zeit, führt Haft aus, sei es gang und gäbe gewesen, dass Bauern ihre Rinder mitten im Wald weiden ließen – was modernen Waldbesuchern gänzlich unbekannt ist. Die Waldweide prägte, wie der Autor herausarbeitet, über Jahrhunderte den Lebensraum, bis Wald und Weide auf reichlich künstliche Art aufgespalten wurden. Das geschah auch, um dem Adel eine ungestörte Jagd zu ermöglichen. Das Fußvolk der Nichtjäger hat das Privileg nun in Form eines Dunkelwaldideals verinnerlicht.
Das Ende der Waldweide, so Haft, bedeutete, dass sich mit dem Verschwinden der letzten wirklich großen Tiere, die es vermochten, Lichtungen und Schneisen offen zu halten, ebenso die darauf angewiesenen Insekten, Pflanzen und Vögel verabschiedeten. Haft plädiert dafür, die Waldrinder ebenso zurückzuholen wie die Wisente und sogar mit den sogenannten Przewalski-Pferden in deutschen Wäldern die nächsten Verwandten mongolischer Urpferde auszusetzen, auf dass sie durch Grasen und scharrende Hufe Lichtschneisen zwischen den Bäumen schaffen.
Als neues Ideal schlägt der Autor den sogenannten „Mittelwald“ vor, wie man ihn zum Beispiel in Unterfranken in der Nähe von Bad Windsheim antreffen kann. Hier hat Haft sein Paradies gefunden. „Dieser Wald ist einer der artenreichsten Wälder des Landes“, schickt er voraus und beschreibt, was hier anders ist: Die Waldwege seien „gesäumt von blühenden Sträuchern, Rosen, Weißdorn, Schneeball“. Es gebe offene Flächen mit einigen großen Solitärbäumen, die sich mit dichten, undurchdringlich wirkenden Teilen abwechselten.
Eine Provokation für traditionalistische Ökologen und Forstleute
Dass auf einer Einschlagfläche nur noch „ein paar alte, große Eichen stehen“, stellt der Autor nicht als negativen Eingriff dar, sondern als Chance für eine Vielzahl von Insekten- und Vogelarten. Gerade weil sich der Mensch im Mittelwald benehme wie die sprichwörtliche „Axt im Wald“, wimmle es nur so von Schmetterlingen. Zudem seien mit Neuntöter und Feldschwirl zwei selten gewordene Vögel anzutreffen, die man sonst nur aus offener Landschaft kenne. Im Mittelwald sprudle das Leben: „Kaum auszudenken, wie sich die hier herrschende Vielfalt noch einmal weiter steigern würde, wenn man ein paar Rinder und Pferde in das Entwicklungskonzept integrieren würde.“
Ziemlich schlecht kommen dagegen jene Lebensräume weg, die vielen Menschen als Inbegriff natürlicher Erhabenheit gelten – die Buchenwälder. Haft zufolge führt die Tendenz der Buchen, andere Arten durch Schatten und ein spezielles Mikroklima, das etwa Eichen zu Opfern von Mehltau werden lässt, zu verdrängen, in eine Sackgasse: „Die Anzahl der Arten, die nur oder vorwiegend an, auf oder in der Buche leben, ist überschaubar“, moniert er und beschreibt den Lebensraum als „monoton“. In einem großflächigen Buchenwald könne „kein Auerhahn und kein Luchs existieren“, weil die beiden Tiere ebenso wie die meisten anderen heimischen Arten hier nicht satt würden. Ließe man den Autor schalten und walten, so würden schon bald breite Schneisen Buchenwälder durchziehen, auf denen Eichen und andere Baumarten groß werden, und Großherbivoren würden durch die oft besungenen „Kathedralen der Natur“ rumpeln.
Haft geht also reichlich unorthodox an den Wald heran, was sich auch darin zeigt, dass er mit der Döberitzer Heide bei Berlin ausgerechnet einen früheren Truppenübungsplatz zur Ideallandschaft erklärt, weil sich dort Wisente und Wölfe gute Nacht sagen. Für eher traditionalistische Ökologen ist „Unsere Wälder“ eine ebenso große Provokation wie für Forstleute, die sich der Pflege dichter, geschlossener Wälder widmen.
Der Autor entfaltet seine These erzählerisch eher in Windungen und Verzweigungen, statt sie stringent zu präsentieren. Davon lenkt ab, dass die eingesprengselten Naturschilderungen wirklich gekonnt ausfallen. Dass dieses Buch einiges an Widerspruch ernten wird, dürfte Jan Haft wohl am wenigsten überraschen. Er versucht sich in der Debatte um den Wald der Zukunft in einer ähnlichen Rolle wie seine Lieblingstiere, die Großherbivoren: Mit argumentativem Dickschädel pflügt er wuchtig Schneisen in das Dickicht der Argumente. Wer seinen Fährten folgt, wird Überraschungen erleben und Schreckrufe traditioneller Waldexperten hören.
Jan Haft: „Unsere Wälder“. Wie sie sind, wie sie sein könnten. Penguin Verlag, München 2024. 256 S., Abb., br., 24,– €.