
Wer wollte, hätte an diesem Sonntag im Aachener Dressurstadion eine Studie am lebenden Objekt zum Thema Selbstbewusstsein im Spitzensport durchführen können. Zahlreiche Probanden boten sich an, zuvörderst der überraschende Sieger und die Zweitplatzierte der Grand-Prix-Kür.
Noch nie zuvor war Justin Verboomen beim CHIO Aachen gestartet, geschweige denn bei einer Weltmeisterschaft oder Olympischen Spielen. Wohingegen Isabell Werth, Rekordolympiasiegerin, schon 1992 den Großen Aachener Dressurpreis gewonnen hat. In diesem Jahr sah alles danach aus, als würde ihr das wieder gelingen. Zum 16. Mal.
Mit der Stute Wendy zeigte sie eine fehlerfreie Kür zur Musik von Bonnie Tyler, die ihr in Paris vergangenen Sommer die olympische Silbermedaille eingebracht hatte. Sogar Wendys Galoppwechsel von Sprung zu Sprung gelangen diesmal. Das war vor drei Wochen bei der deutschen Meisterschaft und auch am Samstag im Grand-Prix-Special ihre Schwachstelle gewesen.
Schon am Samstag hatte sie der Belgier Verboomen mit seinem Hengst Zonik Plus übertrumpft – was Werth nur noch mehr anstachelte. Nach der Kür dirigierte sie vom Sattel aus selbstbewusst und siegesgewiss das johlende Publikum, das sich von seinen Plätzen erhoben hatte. Die anschließend verkündete Wertung der Richter – 88,44 Prozent, neue Führung – ließ viele Zuschauer glauben: Da war er wieder, der typische Werth-Moment, im richtigen Augenblick unter größtem Druck alles richtig zu machen. „Ich liebe den Wettkampf“, sagte sie später, „das macht doch unseren Sport aus. Mal hat man einen Prozentpunkt mehr, mal einen weniger. Und solange das so ist, mache ich weiter.“

Den Matchball hatte allerdings Justin Verboomen. Er startete unmittelbar nach Isabell Werth, zu leiseren Tönen, wie er sie selbst auch in den Pressekonferenzen nach seinen beiden Siegen anstimmte. Eine Musikkomposition ohne Gesangsstimme, aber trotzdem mitreißend. „Ich will mit dieser Musik Emotionen transportieren, dem Publikum Gänsehaut geben“, sagte der Reiter. Das gelang ihm zweifellos. Die Klänge passten hervorragend zu seinem leichtfüßigen Hengst. Einen ganzen Prozentpunkt mehr vergaben die Richter an das Siegerpaar: 89,40 lautete ihre Wertung.
Enge Verbindung zwischen Reiter und Pferd
Der 37-jährige Belgier, überwältigt von seinem überraschenden Erfolg, schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen, winkte zaghaft ins Publikum und wischte sich die Freudentränen aus dem Gesicht. Seine Emotionen ließ er jedoch erst heraus, als sein Sieg offiziell verkündet wurde. Als zweijähriges Pferd entdeckte Verboomen seinen Zonik in Portugal, inzwischen ist der Hengst neun Jahre alt, noch immer recht jung für ein Grand-Prix-Pferd.
Die enge Verbindung zwischen Reiter und Pferd war während der Prüfung unübersehbar. Die beiden bilden eine Einheit, kommunizieren für Außenstehende nicht sichtbar, so wie es in der Dressur sein soll. Locker und elastisch wie ein Flummi bewegt sich Zonik in den Lektionen. „Für ihn ist das alles hier noch unbekannt“, sagte Verboomen so leise, dass er kaum zu verstehen war. Im Gegensatz zu seinem Reiter war der Hengst völlig unbeeindruckt von der Aachener Atmosphäre: „Er ist sensibel, aber er hat keine Angst. Er ist hier von Tag zu Tag gewachsen“, sagte Verboomen.
„Sehr zufrieden mit Wendys Entwicklung“
Isabell Werth gab sich als faire Zweitplatzierte. Ihr brachte die Turnierwoche in Aachen die Erkenntnis, dass sie mit Wendy auf dem richtigen Weg ist. Erst seit eineinhalb Jahren steht die nun elfjährige Stute in ihrem Rheinberger Stall. Im gestreckten Galopp hatten sich die beiden in dieser kurzen Zeit in der Weltspitze etabliert. Doch die Vorbereitung auf die diesjährige Europameisterschaft begann für die beiden holprig.
Im Mai musste Werth ihren Start in Mannheim absagen, weil Wendys Bein geschwollen war. Somit stiegen sie erst im Juni bei den deutschen Meisterschaften in die Saison ein – wo sie prompt die Goldmedaille gewannen. „Ein Turnier hat uns in der Vorbereitung gefehlt“, sagte Werth, „aber ich bin sehr zufrieden mit Wendys Entwicklung. Sie ist unheimlich cool und fokussiert.“
Bei der Europameisterschaft in Frankreich Ende August werden die Rekordreiterin und der Rookie wieder aufeinandertreffen. Vor diesem Wochenende war dort eher ein Dreikampf zwischen Werth, der britischen Weltmeisterin Charlotte Fry und der Olympia-Fünften aus Dänemark, Cathrine Laudrup-Dufour, zu erwarten gewesen. Die beiden waren nicht in Aachen gestartet. Bei der EM wird das Gerangel um die Einzelmedaillen wohl größer werden. Und noch ein weiterer deutscher Reiter könnte Chancen auf einen Podestplatz haben: Frederic Wandres belegte mit dem Wallach Bluetooth und einer Wertung von 84,490 Prozent Platz drei in der Aachener Kür. Das deutsche Team für Crozet komplettieren Ingrid Klimke mit Vayron und die EM-Debütantin Katharina Hemmer mit Denoix.
Bei dem Championat in Crozet am Genfer See werden auch Justin Verboomen und Zonik Plus Neuland betreten. Bis dahin soll der Hengst eine Pause erhalten, Abstand vom Turniertrubel gewinnen. Sein Ziel für die EM sei es, sagte Verboomen in Aachen, „das Gefühl von hier zu wiederholen“. In der Zwischenzeit wird er sich weiterer Kaufangebote für den Rappen erwehren müssen. Die habe es nämlich schon zahlreich gegeben. Das Pferd gehört seinem Reiter, eine eher seltene Konstellation im internationalen Reitsport. Doch für Justin Verboomen ein großes Glück: „Es ist meine Entscheidung, ihn zu behalten, und ich muss mir keine Sorgen machen, ihn zu verlieren. Ich bin froh, ihn in meinem Leben zu haben.“