
Nein, man kann dem Roman nicht vorwerfen, leichtsinnig gewesen zu sein. Mit Fahrradhelm-Vorsicht schnallt er sich noch vor Beginn einen dieser Sätze vor, die man in letzter Zeit häufiger gelesen hat: „Dieses Buch ist ein Roman.“ Kontrolle ist besser als Vertrauen, und so steht da, als literarisches Werk knüpfe es „an reales Geschehen und an Personen der Zeitgeschichte an“. Diese sanft reingeknüpfte Realität allerdings strickt sich gerade mit glühenden Nadeln in die Geschichte hinein.
Der Galerist Johann König sowie seine Frau Lena König fühlen sich wegen eines Romans des Schriftstellers Christoph Peters in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. In der vergangenen Woche reichten sie einen Antrag am Landgericht Hamburg ein auf den Erlass einer einstweiligen Verfügung, nach der das Buch Innerstädtischer Tod, das im Luchterhand Verlag erschienen ist, nicht mehr verbreitet und veröffentlicht werden darf. Und fast genau 18 Jahre nach dem historischen Urteil zu Esra, dem heute verbotenen Liebesroman des Schriftstellers Maxim Biller, droht der Kunstfreiheit im Deutschland des Jahres 2025 ein vielleicht noch um einiges tieferer Schnitt. Oder?
Der Roman Innerstädtischer Tod, der in einem Schreiben der Rechtsanwaltskanzlei Schertz Bergmann zerpflückt wird, erschien bereits im September 2024. Erst kürzlich, unter anderem durch ein Lob des Fernseh-Literaturkritikers Denis Scheck, „des Streiters für das Gute, Schöne, Wahre“, nahmen die Antragsteller Johann und Lena König davon Notiz. Peters’ Roman ist der letzte Teil einer Großstadttrilogie, im Zentrum steht ein junger Künstler in Berlin, dessen Kunst den überdrehten Aufmerksamkeitslogiken seiner Welt folgend meist als „really disturbing“ kategorisiert wird. Dieser Künstler steht kurz vor dem internationalen Durchbruch, bevor er eine „Marke“ wird, bevor er sich endgültig in die überhitzte internationale Kunstwelt stürzen kann, Art Basel, Frieze, Biennale. Und er steht unmittelbar vor einer Ausstellungseröffnung bei dem Berliner Stargaleristen „mit Dependancen in New York, Shanghai, Abu Dhabi“ namens Konrad Raspe. Dann werden allerdings Vorwürfe bekannt gegen den Galeristen Raspe, es geht um sexuelle Belästigung, und der Künstler findet sich in dem Dilemma zwischen Karriere und Moral wieder. Zwischen alldem vibrieren die Ereignisse des Jahres 2022, Russland bombardiert Lwiw, die Angst vor einem Atomkrieg blitzt auf, man bestellt frischen Ingwer-Minze-Tee und Karottenkuchen, ein Abgeordneter der Neuen Rechten sitzt in einer Mercedes-Limousine und lässt sich von einem „Fahrer mit morgenländischem Migrationshintergrund“ zum Borchardt chauffieren, ein Bild-Chef wurde gefeuert, nachdem ihm unangemessenes Verhalten gegenüber Mitarbeiterinnen vorgeworfen wurde, und anhand der sexuellen Spannung zwischen der Frau des Galeristen und dem Künstler verhandelt Peters noch „die Selbstermächtigung der reifen Frau“. Kurz: ein Roman, der sich wie ein frisch gewaschener Welpe im Gegenwartsschlamm der Zeit wälzt.
Das Ehepaar König will sich nun in dem Roman-Galeristen Konrad Raspe und seiner Ehefrau Eva-Kristin wiedererkennen. Der Roman lasse laut Antragsschreiben nicht erkennen, welche Elemente genau erfunden wurden und welche der Realität entsprechen. Ähnlich wie der Galerist im Buch war auch Johann König eine schillernde Persönlichkeit der Kunstszene, ein Popstar, über den schon immer viel geredet wurde. Im Jahr 2022 veröffentlichte die ZEIT einen Artikel, in dem mehrere Frauen Johann König sexuelle Belästigung vorwarfen. König klagte dagegen und bekam vom Oberlandesgericht Hamburg in Teilen recht, in Teilen nicht. Peters allerdings sammelte, anders als die Journalisten, keine eidesstattlichen Erklärungen, er habe nicht im Umfeld von König recherchiert, sagt er. Der Ausgangsort eines Schriftstellers ist und bleibt der Schreibtisch, von dem aus er sich raus in die Welt denkt. Oder wie Wolfgang Koeppen sein Handwerk beschreibt: „Der Skribent sitzt zu Hause an seinem Tisch, er saugt sich’s aus den Fingern.“
Man erreicht Christoph Peters genau dort, beim Kampf mit dem nächsten Roman, in einem Haus der Villa Massimo bei Rom. Peters hat in den letzten Nächten wenig geschlafen, er wirkt aufgeregt, redet schnell, nein, mit so was habe er absolut nicht gerechnet. Der Disclaimer vor dem Roman sei eine Anlehnung an Wolfgang Koeppens Trilogie des Scheiterns, ein Zwinkern in Richtung literarischer Vergangenheit, in Richtung Koeppens berühmter Großstadtromane, denen ähnliche Sätze vorangestellt waren. „Wo Wolfgang Koeppen den Papst auftreten lässt, ist es bei mir der Berliner Erzbischof“, sagt Peters. „Den kenne ich natürlich nicht persönlich, also denke ich mir aus, wie der sein könnte, als Mensch, als Bischof. So mache ich das mit allen Figuren.“ Er erzählt von der Frau des Galeristen im Roman (sie trägt enges Leder, ist ehemalige Wedding-Plannerin und fast 50 Jahre alt) und von Lena König (ist Kunsthistorikerin, jünger, vermutlich dezenter gekleidet). Peters erklärt, warum die Galerie in seinem Roman in einer ehemaligen Kirche aus der wilhelminischen Zeit stammt, während Johann König seine Galerie in der brutalistischen Sankt-Agnes-Kirche eröffnet hat. Warum überhaupt eine Kirche, andererseits: Gibt es nicht einige umgewidmete Kirchen? Warum klagt der Dackelkrawatten tragende AfD-Mann Alexander Gauland nicht auch, dem mit paranoidem Schielen Richtung Realität der Forellenkrawatten tragende rechte Abgeordnete Hermann Carius nachempfunden ist?
Und plötzlich ist man da, wo man nie hinwollte, wühlt in einem Roman herum, will Realität und Fiktion auseinanderfriemeln. Der Roman sei laut Verlag sowieso bereits vor der Veröffentlichung juristisch geprüft worden. „Machen wir uns nichts vor“, sagt Peters. „Ich bin seit 35 Jahren im Kunst- und Literaturbetrieb unterwegs und habe unzählige Übergriffigkeiten aller Art an Kunstakademien, in Galerien, in der Literaturszene gesehen und davon gehört. Ich brauche wirklich keinen Zeitungsartikel, um mir so ein Szenario auszudenken.“ Aber der Fall König, der fand doch Eingang in den Roman? „Natürlich schwingt dieser Fall im Echoraum mit, so wie die Fälle Dieter Wedel und Harvey Weinstein mitschwingen. Alle diese Geschichten sind in dieser Zeit medial präsent, nicht nur die des Antragstellers.“ Außerdem betont der Verlag noch mal in einem Schreiben, das der ZEIT vorliegt, dass den Galeristen im Roman ein wesentliches Merkmal von Johann König unterscheide: Er hat keine eingeschränkte Sehfähigkeit.