Im Juni 1995 verhüllten Christo und Jeanne-Claude den Reichstag

Das fußballinduzierte Sommermärchen von 2006 hat eine heute fast vergessene Vorgeschichte, die sich elf Jahre zuvor zutrug – die Verhüllung des Berliner Reichstags durch das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude. Wer im Juni 1995 dieser Einkleidung eines monumentalen Gebäudes in ein silberglänzendes Gewand beiwohnte, dem haben sich neben der durch die Medien der Welt wandernden ikonischen Fotografie Barbara Klemms des „Wrapped Reichstag“ auch die Empfindungen des damaligen Sommermärchens und die damit verbundenen sinnlichen Reize unvergesslich eingebrannt: der gemeinsame Kunstgenuss mit den vielen anderen Christo-Fans.

Um den hernach restaurierten und zum demokratischen Parlament ertüchtigten Reichstag mit all seinen russischen „Chitler kaputt“ – und „Ich war hier“ – Graffiti im Plenarsaal hing der Geruch des frischen – und des gerauchten – Grases: Man erlebte eine beinahe hippieartige Picknickkultur durch auch seniore und soignierte Besucher.

Zahlreiche Deutsche pilgerten eigens für diese Kunstaktion in die Wieder-Hauptstadt.
Zahlreiche Deutsche pilgerten eigens für diese Kunstaktion in die Wieder-Hauptstadt.Barbara Klemm

Der traumschöne Wandel des spiegelnden Stoffs im Lauf der Tageszeiten, von Sonnenaufgang bis zum Abendrot, war gelebter Impressionismus, lange vor den aktuell ubiquitären und überpreisigen Kitsch-Monet-Seerosen-Immersionsshows in ansonsten verwaisten Fußgängerzonen. Kurzum: eine für dieses Land eher untypische Leichtigkeit, die sich erst wieder 2006 einstellen sollte.

Der traumschöne Wandel des spiegelnden Stoffs im Lauf der Tageszeiten war gelebter Impressionismus.
Der traumschöne Wandel des spiegelnden Stoffs im Lauf der Tageszeiten war gelebter Impressionismus.Barbara Klemm

Zahlreiche Deutsche pilgerten eigens für diese Kunstaktion in die Wieder-Hauptstadt, die anderen fieberten am Bildschirm mit und werden die Besuchermassen gleichfalls nicht vergessen. Die kurzfristige Vereinigung aus Kunsttouristen, politischen Neu-Berlinern wie auch alteingesessenen Wilmersdorfer Witwen mit seltsamen Hunden und noch seltsameren Schulterpolsterkostümen der Neunziger hielt Barbara Klemm wie keine andere Fotografin in einer auch inhaltlich „impressionistischen“ Serie von Bildern fest.

„Enthüllen durch Verhüllen“

Dabei ist die Grundidee von Christos Verhüllungen wie so vieles in der Kunst ein recycelter religiöser Ritus, den der gebürtige Bulgare in seiner Kindheit ständig vor Augen hatte. Gemalte Ikonen werden in der Ostkirche bis heute mit einer in Silber getriebenen Membran, dem „Oklad“, verhüllt. Diese zweite Haut formt die Konturen des Darunterliegenden grob nach, lässt aber noch viel Raum für die Phantasie respektive den Glauben. Hatte den notdürftig vom Architekten Paul Baumgarten wieder aufgebauten Reichstag seit Kriegsende kaum ein Berliner mehr mit dem Hintern angeschaut, auch bedingt durch seine Randlage direkt an der Mauer, konnten nun hinter den Umrissen des wie von Nobuyoshi Araki mit Bondage-Schnüren umwundenen Baus majestätische Formen imaginiert werden.

Die zweite Haut formt die Konturen des Darunterliegenden grob nach, lässt aber noch viel Raum für die Phantasie respektive den Glauben.
Die zweite Haut formt die Konturen des Darunterliegenden grob nach, lässt aber noch viel Raum für die Phantasie respektive den Glauben.Barbara Klemm

Hätte vor der Verhüllung niemand den Reichstag Paul Wallots einigermaßen detailliert zeichnen können, wurde man erst durch den temporären Bild-Entzug wieder neugierig auf das unter der Hülle Verborgene. Christo schärfte die Sinne für das Übersehene, er hebt das Erlebnis eines Objekts gerade durch die Ästhetik der Askese – denn Stoffüberzüge und Schnüre über einem Werk gehören eher zu einer Ikonographie der Lagerräume – auf ein höheres Niveau, weit über dem Ding an sich.

Die Fotografin sekundiert diesem subtilen „Enthüllen durch Verhüllen“, indem sie den Bau über Eck ablichtet und so den mächtigen Eckpylonen durch die Einschnürungen etwas anthropomorph Körperliches und zugleich Skulpturales verleiht. Durchaus denkbar, dass sich das absolute Auge Barbara Klemms auch die ohnehin nahe Analogie zwischen dem silbrig glänzenden Spezialtextil, das mit Metall bedampft wurde, und den ebenso spiegelnden Oberflächen der fotografischen Technik des Silbergelatinedrucks zunutze machte. In ihrer Serie des verhüllten Reichstags jedenfalls lebt die sublime Atmosphäre des deutschen Sommermärchens von 1995 für immer fort.