
Marco De Vincenzo liebt das Mystische. Man ahnt es, wenn man hinter die Tür schaut, wo der Laufsteg noch halb im Dunkeln liegt und eine Wand aus Papyrus mit abstrakten Tierfiguren ihn in zwei Teile teilt. „Ich bin ein bisschen wie ein Archäologe“, sagt der Kreativdirektor von Etro und lächelt fröhlich, eine Stunde bevor er an diesem Abend in Mailand seine neue Kollektion für Herbst und Winter präsentiert. Vor einem Jahr standen hier riesige Masken in Anlehnung an Odysseus auf dem Laufsteg. Und dieses Mal? Obwohl gerade die Models fertig gemacht werden, in einer Stunde die ersten Gäste kommen, bleibt der Sizilianer mit weißem Hemd und schwarzer Hose ruhig und erklärt ausführlich die Entstehung seiner Kollektion.

Am Anfang steht das Nichts. De Vincenzo hat keine genaue Vorstellung von dem, was am Ende auf dem Laufsteg zu sehen sein wird – bis zu dem Zeitpunkt, an dem er tage- oder wochenlang in den Archiven von Etro in Mailand abtaucht. „Ich beginne jede Saison, ohne zu genau zu wissen, wohin ich gehe“, sagt er. Er schaut sich viele Stunden lang alte Stoffmuster an – und davon gibt es viele.

Inspiration aus dem Archiv
Das 1968 von Gerolamo Etro gegründete Unternehmen begann zunächst damit, hochwertige Stoffe mit auffälligen Mustern und leuchtenden Farben für andere Designer wie Oscar de la Renta und Yves Saint Laurent zu produzieren. 1981 präsentierte Etro dann bei der Mailänder Modewoche seine erste eigene Kollektion – und mit ihr jenes Paisley-Muster, das bis heute das Markenzeichen der Marke ist. Wenn De Vincenzo in Archiven unterwegs ist, folge er seinem Instinkt, erzählt er. Mitunter bleibe er an Dingen hängen, die ihn Monate zuvor noch nicht interessiert hätten. Und plötzlich stelle er sich beim Öffnen einer Kiste die Frage: „Warum nicht diese Saison? Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, es zu verwenden.“ So finde er Tag für Tag, Schritt für Schritt, weitere Details, die er in die Geschichte einbringe, die er am Ende auf dem Laufsteg erzählen wolle. „Es ist so, als würde ich Saison für Saison das entdecken, was ich Magma nenne.“
Saison für Saison stellt sich aber auch die Frage: Wird aus der zunächst undurchsichtigen Schmelzmasse auch jenes Muster zutage treten, das die Marke ausmacht? Die erste Kollektion des Sizilianers vor zweieinhalb Jahren zeigte auffällig wenige Paisley-Prints. In den folgenden Kollektionen waren sie wieder stärker zu sehen. Gut möglich, dass die Etro-Kundin auch nach Etro verlangt – und das soll für alle sichtbar sein. Viele lieben immer noch das tropfenförmige Muster, das seinen Ursprung in Persien und Indien hatte und nach der schottischen Stadt Paisley benannt ist, deren Werkstätten das Muster im 19. Jahrhundert populär machten. Marco De Vincenzo wiederholt sich nur ungern. Eine Kollektion, sagt er, sei jedesmal so, wie einen Palast von Grund auf neu zu bauen.
Zwischen Mythos und Moderne
Als später am Abend die ersten Models über den Laufsteg laufen, ist dennoch klar: Paisley wird wieder wichtig. Es ist auf Denim und Cord, auf karierte Anzüge und flatternde Seidenkleider gedruckt und in dicke Pullover verstrickt. Aber das ikonische Muster ist eingebettet in eine üppige Flora, weshalb es manchmal kaum zu erkennen ist. Ein bisschen kommt man sich vor wie in einem botanischen Garten, nur das Summen der Hummeln und das Zwitschern der Vögel fehlt. Neben den kraftvollen Drucken stechen die kunstvollen Blumenstickereien hervor, die der Designer in Zusammenarbeit mit der koreanischen Künstlerin Maria Jeon entworfen hat.

Auch das Mystische ist wieder da. Marco De Vincenzo ließ sich von altägyptischem Papyrus inspirieren, auf dem zu sehen ist, wie sich die Tränen des Gottes Ra, die den Boden berührten, in Bienen verwandelten und wie diese später mit den Blüten aller Pflanzen zusammenwirkten, um Honig und Wachs zu produzieren und so Leben zu verbreiten. In den Bernsteinketten der Models sind Bienen eingeschlossen. Mit der Papyruswand, die den Laufsteg teilt, habe er etwas Ursprüngliches schaffen wollen, sagt De Vincenzo. Diese wilde Anmutung wird in der Kollektion durch die wuchtigen Pelze verstärkt. Besonders die gigantischen Kappen aus Fake Fur bleiben in Erinnerung. Auch das, sagt der Designer-Archäologe am Ende des Gesprächs, sei seine Vision: groß zu denken. „Ich mag Maximalismus in der Mode. Deshalb bin ich bei Etro genau richtig.“