Die Feierlichkeiten um Notre-Dame sind vorbei, anlässlich derer sich die mächtigen Zwillingstürme der Westfassade und ihre von Charles Meryon im neunzehnten und Walt Disney im zwanzigsten Jahrhundert gleichermaßen unsterblich gemachten steinernen Wasserspeier in Dämonengestalt wieder auf Abertausende Bilder und in die Aufmerksamkeit von Millionen Zuschauern gedrängt haben. Notre-Dame war und ist die bekannteste Kirche Frankreichs.
Dabei hat die Pariser Kathedrale an einem Wettbewerb nie teilgenommen: Den um das höchste Chorgewölbe oder die himmelstürmendsten Türme. Nahezu alle anderen gotischen Dome waren dagegen beim neuantiken Schneller-Höher-Weiter dabei. Im Mittelalter siegte jene Stadtgemeinschaft – fast nie waren es Bischöfe, die diese Generationenwerke alleine geschultert hätten –, die die gigantischen Steingebirge am schnellsten hochzog. Dennoch sprechen wir von Zeiträumen fast nie unter hundert Jahren.
Am wichtigsten war der Hochchor
Der wichtigste Architekturteil – auch der meist zuerst gebaute und fertiggestellte, damit schon Gottesdienst gefeiert werden konnte – war dabei der Hochchor, überkrönte er doch den Hauptaltar. Die Chorgewölbe konnten daher gar nicht hoch genug sein, tragischer Sieger war hier der Chor der Kathedrale von Beauvais mit sagenhaften 46,7 Metern, das höchste Gewölbe aller gotischen Chöre – mit der fatalen Konsequenz, dass der erste Beauvaiser Hochchor im Jahr 1284 einstürzte.
Wie sehr Bauwut und Sucht nach Rekorden auch ein nationaler Wettstreit waren, zeigt etwa der Fakt, dass die längsten und damit prestigeträchtigsten Kirchenschiffe der Gotik allesamt nicht in Frankreich stehen, sondern beim ewigen Konkurrenten England: Das Langhaus der Holy Trinity Church in Winchester erstreckt sich über gewaltige 170 Meter, die Abteikirche Saint Albans über 168 Meter, die Kathedrale von Canterbury immerhin noch über 160 Meter. Im Vergleich dazu bleibt Notre-Dame mit 130 Metern Länge doch sehr bescheiden.
Kirchtürme gleichen Babeltürmen
Dasselbe Bild bei den Kirchtürmen, die in der Gotik oftmals eher blasphemischen Babeltürmen gleichen. Hier wird Frankreich, das häufiger seine Türme wie im Fall von Reims, Noyon oder Soissons im Mittelalter nicht vollendete, von etlichen Kirchen im deutschsprachigen Raum überflügelt: Der Wiener Stephansdom und das Freiburger Münster kratzen mit 136 respektive 126 Metern am Himmel, der Kölner Dom gar mit 157 Metern, vor allem aber Ulms Kirchturm mit 161,53 Metern – als bisher höchster der Welt. Bis 2026 dem Jesus-Turm der Sagrada Familia in Barcelona ein zehn Meter hohes begehbares Kreuz aus Glas aufgesetzt wird, das Ulms Münster dann mit 172,50 um fast genau diese zehn Meter überragen und ihm den Weltrekord nehmen wird.
Ein Treppenwitz der Geschichte ist, dass dieses technisch komplexe Meisterwerk in einem mittelständischen Betrieb unweit von Ulm gefertigt und von dort nach Katalonien gebracht werden wird. Warum nur geht einem bei all der Zahlenhuberei der dadaistische Kindervers „In Ulm und um Ulm und um Ulm herum“ nicht mehr aus dem Kopf?