

Durch die seit Ende Oktober bei Netflix gezeigte Dokumentation „Babo – Die Haftbefehl-Story“ von Juan Moreno kam ein Millionenpublikum mit der Geschichte des derzeit wichtigsten Deutschrappers in Berührung. Darunter viele, die sich sonst nicht in dieser Welt bewegen. Der Film hat Emotionen ausgelöst, nicht nur bei Reinhard Mey, der fünfeinhalb Jahrzehnte nach der Veröffentlichung des Liedes „In meinem Garten“ in Haftbefehl einen neuen Verehrer fand – „Brutaler Song, Alter“ – und eine neue Zuhörerschaft: junge Menschen, die zur Welt kamen, als der Liedermacher das Rentenalter erreichte. Diese wechselseitige Offenheit, die plötzliche Verständnisbereitschaft zwischen einander sonst fernen Schichten der deutschen Gesellschaft, hat selbst etwas Bewegendes.
Denn Aykut Anhan, wie Haftbefehl mit bürgerlichem Namen heißt, hat den schweren Rucksack einer traumatisierten Familie und eine kriminelle Vergangenheit im Gepäck. Als Jugendlicher rutschte er im Offenbacher Mainpark in eine Dealer-Laufbahn, sein Weg auf den Thron der Deutschrapper war windungsreich. Für viele Twens und Teens ist seine Musik Teil des Soundtracks ihres Lebens, erst recht, wenn sie im Rhein-Main-Gebiet sozialisiert wurden. Haftbefehls Hymne „069“ lief als identitätsstiftendes Pflichtstück auf jeder Party – zum Vergleich für die älteren Leser: vielleicht ähnlich dem Effekt, den Herbert Grönemeyers Platte „4630 Bochum“ in den mittleren Achtzigern hatte. Aus dem wahren Leben, der Strafverfolgung, borgt sich Anhan den Künstlernamen, als sein erstes Studioalbum „Azzlack Stereotyp“ herauskommt, ist er Mitte zwanzig.
Mitgefühl und Erschütterung
Eine neue Welt öffnet sich, aber die Drogen bleiben. Juan Morenos Dokumentation führt diese Achterbahnfahrt zwischen ganz unten und ganz oben schonungslos vor, manchmal zu schonungslos. Dass man als Journalist häufiger Menschen vor sich selbst in Schutz nehmen muss, ist im Zeitalter der asozialen Medien offenkundig von vorgestern. Sehr heutig dagegen der Vorschlag von Offenbacher Schülern, Haftbefehls Texte in der Schule zu lesen. Wie wäre es mit dem hier: „Wie lang wird sich noch die Erde drehn? / Nicht mehr lang, solang sie der Teufel auf den Schultern trägt / Rotz die Narben aus der Seele, verflucht war meine Kindheit / Meißel die Zeile an die Wände, und Blut ist meine Tinte / Ich schrei, so laut ich kann, in die Erdatmosphäre / ,Lieber Gott, ist das die Nacht, in der ich sterbe?‘“
Da ringt einer um seine Existenz, und dieses Flehen um Hilfe hat Mitgefühl und Erschütterung ausgelöst – eine Botschaft, die zum Wesenskern der Weihnachtszeit passte, bevor diese in eine Konsumpflichtveranstaltung verwandelt wurde. Bei einem kurzen Auftritt in Osnabrück verkündete Haftbefehl vor vier Wochen: „Ich wollte euch noch sagen, ich bin clean. Ich hoffe, ihr seid es auch. Scheiß auf die Drogen.“ Heute wird Aykut Anhan vierzig Jahre alt. Alles, alles Gute.
