Heterofatalismus in China: Frauen daten lieber Cosplayerinnen als Männer – Panorama

Mit diesem Gefühl ist Zhangzhang nicht allein. Weltweit erleben junge Frauen Beziehungen mit Männern als mühsam oder riskant. Diese Müdigkeit gegenüber heterosexuellen Beziehungen hat inzwischen sogar einen Namen: Heterofatalismus. Eine Mischung aus Frust und Resignation, sich zu Männern hingezogen zu fühlen, ihnen aber nicht mehr zu vertrauen.

In China zeigt sich diese Entwicklung besonders deutlich. Jahrzehntelang galt Heirat als Pflicht, nicht als Entscheidung. Doch die Generation der heute Zwanzigjährigen wächst in einem Land auf, in dem Frauen besser gebildet sind als je zuvor, ihr eigenes Geld verdienen und selbständig leben. Viele erleben, dass Männer damit nur schwer zurechtkommen. Also gehen sie einen radikalen Schritt: Sie wenden sich stattdessen virtuellen Figuren zu, Männern aus Computerspielen. Und wenn diese Figuren für ein Date im echten Leben lebendig werden sollen, dann werden sie eben von anderen Frauen gespielt, die verstehen, wonach sie suchen. Kann das funktionieren?

Coco hat ein kleines Geschenk für sie dabei. Undenkbar, dass ein chinesischer Mann daran gedacht hätte, sagt sie

Seit drei Jahren spielt Zhangzhang nun schon das Computerspiel „Worlds Beyond“, eines jener romantischen Spiele, die in China millionenfach von Frauen gespielt werden. Es simuliert mit erstaunlicher Präzision Gespräche, Emotionen und Nähe, sodass viele Spielerinnen den Eindruck haben, mit einer Art künstlicher Intelligenz zu sprechen. Die virtuellen Männer schicken Sprachnachrichten, antworten auf Texte, reagieren eifersüchtig oder liebevoll, je nach Eingabe. Jeder Klick lässt sie echter wirken. Die männlichen Hauptfiguren haben eine eigene Geschichte, Stimme und einen Charakter. Zhangzhangs Favorit ist Gu Shiye: klug und kühl, doch einer, der fürsorglich wird, wenn man die harte Schale mal durchdrungen hat. Für viele Spielerinnen ist er längst mehr als eine Computerspielfigur. Er ist Begleiter, Seelentröster und Projektionsfläche für das, was viele Frauen in der Realität vermissen: Geduld, Verständnis, Verlässlichkeit.

Und genau diesen Gu Shiye will Zhangzhang heute treffen. Dafür trägt die Schauspielerin Coco, ebenfalls 20 Jahre alt, die Kleidung, die er im Spiel trägt: einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Die Schultern stark gepolstert, um breiter zu wirken. Das Haar steckt unter einer schwarzen Kurzhaarperücke, akkurat geschnitten. Selbst ihre Schuhe haben Plateauabsätze, damit sie einige Zentimeter größer ist als Zhangzhang.

Zhangzhang und Coco alias Gu Shiye.
Zhangzhang und Coco alias Gu Shiye. (Foto: Foto: Liu Xinyue; Bearbeitung: Joana Hahn)

Sie bewegt sich ruhig und kontrolliert, so wie es Gu Shiye im Spiel tut. Zhangzhang möchte mit Gu einfach das machen, was junge Paare in China machen: essen gehen, durch die Mall spazieren, Händchen halten. Als sie über die Fressmeile des Einkaufszentrums laufen, trägt Gu eine kleine Tüte in der Hand. Darin ist ein Kuscheltier, ein Geschenk für Zhangzhang, als kleine Aufmerksamkeit. Undenkbar, sagt Zhangzhang später, dass ein echter chinesischer Mann darauf gekommen wäre.

(Foto: Foto: Liu Xinyue; Bearbeitung: Joana Hahn)

Deren Ruf ist unter jungen Frauen in China geradezu desaströs. Sie gelten als ungepflegt, chronisch desinteressiert und dadurch wenig begehrlich. Gleichzeitig fühlen sich viele Männer von dieser Einschätzung und ihrem daraus resultierenden Single-Dasein ungerecht behandelt und entladen ihren Frust in misogynen Chatgruppen und Internetforen. Dort schreiben sie über angeblich verwöhnte oder zu anspruchsvolle Frauen, behaupten, die seien zu westlich, zu eigenständig, zu stolz. Das Vertrauen zwischen den Geschlechtern bröckelt sichtbar.

Da wirkt es gar nicht mehr so bizarr, wenn Frauen andere Frauen buchen, um schöne Dates zu haben.

Es ist Zhangzhangs viertes Date mit Gu Shiye. Jedes Mal hat sie Coco dafür gebucht und bezahlt. „Ich wollte das am Anfang einfach ausprobieren“, sagt sie. „Ich hatte online gesehen, wie andere Mädchen solche Dates machen. Sie sahen so glücklich aus, so leicht. Ich wollte wissen, ob ich das auch fühlen kann.“ Heute weiß sie genau, was sie von Coco erhält: Nähe ohne Risiko. „Ich weiß, dass das gespielt ist.“ Aber es fühle sich für sie trotzdem echt an: für ein paar Stunden so zu tun, als gäbe es diesen Mann. Sie lächelt kurz. Ihre Sätze kommen leise, manchmal mit einem kleinen Lachen, das wie eine Entschuldigung wirkt. „Ich mag echte Männer einfach nicht“, sagt sie. „Die meisten sind komisch. In Spielen sind sie normaler. Sie hören zu, sie drängen sich nicht auf, sie sind freundlich. So wie Gu.“

Merchandise zu dem Spiel „Worlds Beyond“ mit verschiedenen Motiven der Spielfigur Gu Shiye.
Merchandise zu dem Spiel „Worlds Beyond“ mit verschiedenen Motiven der Spielfigur Gu Shiye. (Foto: Foto: Liu Xinyue; Bearbeitung: Joana Hahn)

Als Kind habe sie selten Zuneigung erfahren. Die Eltern hätten viel gearbeitet und sie oft allein gelassen. „Ich war früher jemand, der ständig Bestätigung wollte.“ Und wenn ihr die niemand gab, dann hatte sie ja noch die Figuren im Spiel. Zhangzhangs Bild von echten Männern hingegen wurde negativ geprägt, in der Schule oder an der Uni sei auf die meisten kein Verlass gewesen, viele hätten sie belogen und enttäuscht.

Nicht so wie Gu alias Coco. Auf Dates fühlt sie sich geborgen – und sicher. Sie muss sich keine Sorgen machen, dass er übergriffig wird, wie bei Dates mit fremden Männern. Im Gegenteil, Gu Shiye ist respektvoll, er vergisst keinen Geburtstag und denkt mit. „Wenn er etwas sagt, dann immer genau das Richtige.“

Coco ist lesbisch, sie sieht das als Vorteil: „Ich weiß, wie sich Zuneigung gegenüber Frauen anfühlen soll.“

Coco weiß, welch hohe Erwartungen an sie gestellt werden. Jede Geste zählt, jedes Wort kann den Zauber brechen. Für sie ist das eine Mischung aus Schauspiel, Einfühlung und Servicearbeit. „Cosplay“ nennt das Coco, also das verkleidete Nachahmen von Figuren aus Spielen oder Comics, aber eines mit besonderem Anspruch. „Ich muss den Charakter wirklich verstehen“, sagt sie. „Wie er spricht, wie er schaut, wie er sich bewegt. Aber gleichzeitig muss ich auch die Person verstehen, die mir gegenübersitzt.“

Was als Hobby begann, ist für die Noch-Studentin Coco längst zu einem Nebenjob geworden. Doch in chinesischen Großstädten wie Hangzhou, Shanghai oder Suzhou sei der Markt inzwischen hart umkämpft, sagt sie. Im chinesischen Netz findet man Dutzende Anbieter für diese Art von Verabredungen. „Du musst immer liefern“, sagt Coco. Sonst kämen die Kundinnen nicht wieder für ein zweites Date. Das ist wichtig, denn die Treffen bringen gutes Geld. „Manche Schauspieler nehmen nur zweihundert Yuan für einen ganzen Tag, andere verlangen über tausend.“ Umgerechnet sind das zwischen 25 und 120 Euro.

Coco ist lesbisch, was sie als Vorteil sieht. „Ich weiß, wie sich Zuneigung gegenüber Frauen anfühlen soll“, sagt sie. Auf dem Date mit Zhangzhang streicht sie ihr immer wieder über den Rücken, hält ihre Hand und spricht erst, wenn sie selbst gefragt wird. Viele ihrer Kundinnen seien gestresst, einsam oder unsicher, erzählt Coco. Sie wollen jemanden, der sie ernst nimmt und einfühlsam ist. Eben das, sagt sie, bekämen sie von chinesischen Männern selten.

Über Jahrzehnte hinweg wurden Söhne bevorzugt und Millionen weibliche Föten abgetrieben

Die Spannungen zwischen den Geschlechtern in China sind auch Teil des demografischen Erbes der Ein-Kind-Politik: Über Jahrzehnte hinweg wurden Söhne bevorzugt und Millionen weibliche Föten abgetrieben. Heute leben in China etwa dreißig Millionen mehr Männer als Frauen. Eine Schieflage, die sich auf dem Heiratsmarkt bemerkbar macht: In vielen Städten suchen Männer verzweifelt nach Partnerinnen, während Frauen zunehmend das Gefühl haben, von Männern bedrängt, belästigt und zur Heirat genötigt zu werden. Viele junge Chinesinnen folgern daraus: Nähe ist riskant, Liebe anstrengend, Beziehung gleichbedeutend mit Enttäuschung oder Druck.

Doch die Cosplay-Dates ersetzen nicht alles. So bleibt körperliche Nähe zwischen Kundin und Dienstleisterin eher symbolisch. Zhangzhang ist genervt, als die Frage aufkommt: „Das ist eine sehr männliche Art, auf Verabredungen zu blicken.“ Es gehe nicht um Sex, sondern um Nähe. „Ich will einfach jemanden, der da ist, der mich ansieht und zuhört. Mehr brauche ich gar nicht.“

Als es Abend wird, laufen die beiden zurück zur Straße. Zhangzhang besteht darauf, dass Gu sie bis zum Taxi begleitet. „Er muss mich immer verabschieden“, sagt sie. Sonst fühle es sich einfach falsch an. Als ihr erstes Date zu Ende ging, weinte Zhangzhang. „Ich dachte, ich wäre stark. Aber als ich gehen musste, kam alles hoch.“ Heute weint sie nicht. Sie hält die kleine Papiertüte mit dem Stofftier fest, das Coco ihr geschenkt hat. Nach den Treffen fühle sie sich immer etwas leer, sagt sie. Aber auch ruhig.