Herzinfarkt bei Frauen: „Viele alteingesessene Ärzte ruhen sich auf ihrem Wissen aus“

18.000 der Herzinfarktopfer in Deutschland sind Frauen. Ihr Sterberisiko ist größer, auch weil sie andere Beschwerden haben als Männer, deshalb werden sie oft falsch – und zu spät behandelt. Ein Herzspezialist hat sich vorgenommen, ihnen zu helfen, und kritisiert ignorante Kollegen.

Zehn Jahre lang dachte Regina Wellmer, mit ihr würde etwas nicht stimmen. Ihr Herz schlug oft schnell, selbst beim Treppensteigen. In ihrem Brustkorb spürte sie Enge, auch im Bauch und Rücken drückte es.

Die 60-Jährige nahm eine Odyssee an Arztbesuchen auf sich, doch auch Herzspezialisten fanden keine Ursache, reagierten gar genervt, nannten sie hysterisch, nahmen ihre Beschwerden nicht ernst. Regina Wellmer begann an sich selbst zu zweifeln: Was, wenn sie das Problem ist? Statt Herzmedikamenten bekam sie Psychopharmaka verschrieben.

Schlechter und später behandelt

Regina Wellmer heißt eigentlich anders, aber Geschichten wie ihre gibt es viele. Die genannten Beschwerden sind Anzeichen für einen drohenden Herzinfarkt, der sich verhindern oder gegebenenfalls schnell behandeln ließe. Untersuchungen zeigen aber, dass Frauen diesbezüglich schlechter oder später behandelt werden als Männer.

Und nicht wenige sterben deshalb, 18.000 der Herzinfarktoten in Deutschland im Jahr sind Frauen. Bei ihnen kommt es häufiger zu Fehldiagnosen, und viele werden von Ärzten derart verunsichert, dass sie sich irgendwann selbst nicht mehr trauen.

Der Kardiologe Michael Becker hat das Problem erkannt und deshalb im Oktober 2018 das erste Frauenherz-Zentrum in Deutschland gegründet. Der 53-jährige Chefarzt am Rhein-Maas Klinikum in Würselen ist auf Frauenherzen spezialisiert. Am Tag kommen etwa fünf Frauen mit Herzbeschwerden zu ihm – aus ganz Deutschland und dem Ausland.

Regina Wellmer ist eine von mittlerweile 4000 Patientinnen, deren Daten in seiner Abteilung erfasst wurden. „Die Auswertungen zeigen uns, dass viele Frauen vergleichbare Beschwerden haben, die häufig fehlinterpretiert werden“, sagt Becker. Zu ihren Symptomen würden eben unter anderem Bauch- und Rückenschmerzen zählen, was Ärzten kaum bekannt sei.

Als ein entscheidender Faktor gilt die Größe: Das Frauenherz ist kleiner als das des Mannes, es schlägt schneller und pumpt mehr Blut. Das Herz beider Geschlechter wird durch drei Gefäße mit Blut versorgt, die bei Männern eher „verkalken“, also durch Ablagerungen verstopft werden. Davor sind Frauen durch ihre Hormone zunächst besser geschützt. Das Geschlechtshormon Östrogen wirkt sich positiv auf das Herzkreislaufsystem aus, unter anderem weil es den Blutdruck senkt.

Wenn Frauen aber in die Wechseljahre kommen, lässt die Östrogen-Produktion nach und damit schwindet der natürliche Schutz vor Gefäßverkalkungen. Insofern geschieht der männliche Herzinfarkt im Durchschnitt Mitte 50, Frauen trifft es etwa zehn Jahre später. Auf Stress reagiert ihr Herz mit einer höheren Herzfrequenz, dadurch steigt der Blutdruck. Auch sind Frauen öfter von Rhythmusstörungen betroffen.

Da sich Frauen- und Männerherzen unterscheiden, macht sich ein Infarkt auf andere Weise bemerkbar. Während ein Mann dann oft einen stechenden Schmerz in der linken Brust spürt, tut einer Frau dagegen eher der linke Arm oder die Schulter weh. Zudem klagen Frauen über Magen-Darm-Beschwerden wie Bauchschmerzen und Übelkeit, auch Rückenschmerzen oder Atemnot können Anzeichen sein. Bei ihnen sind die Hinweise für einen Herzinfarkt weniger eindeutig.

Nicht immer erkennen es die Notärzte und Sanitäter gleich. So ist die Wahrscheinlichkeit nach einem Herzinfarkt zu sterben, für Frauen mehr als doppelt so hoch wie für Männern, wie 2023 portugiesische Analyse von 884 Fällen zeigte. In der Gruppe der bis 55-Jährigen vergingen bei Frauen nach Ankunft in einer Klinik im Mittel 95 Minuten bis zum Eingriff, durch den verengte Herzkranzgefäße erweitert wurden, bei Männern waren es knapp 15 Minuten weniger. Knapp zwölf Prozent der Frauen überlebten den nächsten Monat nicht, das traf aber nur auf etwa fünf Prozent der Männer zu.

Eine Übersichtsstudie der American Heart Association ergänzt dieses düstere Bild, demnach wird eine Frau nach einem Herzinfarkt seltener wiederbelebt als ein Mann. Ruft sie den Notruf wegen der Schmerzen im Brustkorb, wird sie seltener ins Krankenhaus gebracht, seltener erfolgt dann ein EKG oder eine Blutabnahme.

Zehn Jahre bis zur Diagnose

Noch immer würden Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen unterschätzt, betont die Deutsche Herzstiftung. Mit mehr als 180.000 Sterbefällen pro Jahr seien diese aber die häufigste Todesursache bei Frauen. „Selbst einigen Medizinern ist nicht klar, dass das Risiko, einen Herzinfarkt zu kriegen, bei Frauen nach den Wechseljahren genauso hoch ist wie bei Männern“, fügt Becker hinzu.

Die meisten seiner Patientinnen haben einen langen Leidensweg hinter sich, im Schnitt warten sie ein Jahrzehnt auf eine Diagnose, lassen sich von mehr als acht Ärzten untersuchen, bis sie das Frauenherz-Zentrum aufsuchen. Bei einigen werden die Beschwerden mit einem psychischen Befund erklärt – wie bei Regina Wellmer.

Tatsächlich gibt es solche Fälle, bei der Herzneurose beispielsweise handelt es sich um eine psychiatrische Erkrankung: Betroffene sind fälschlicherweise davon überzeugt, an einer schweren Herzkrankheit zu leiden. Sie beklagen Symptome wie Herzstolpern oder Herzrasen, doch körperliche Ursachen lassen sich nicht feststellen.

Aber in der Mehrheit der Fälle ist das Herz das Problem. Wichtig sei zunächst: „Den Frauen das Gefühl zu geben, dass sie verstanden werden und wir ihre Beschwerden ernst nehmen“, sagt Becker. Man nehme sich alle bisherigen Befunde und Therapie-Ansätze vor, erweitere diese durch eigene Überlegungen sowie Untersuchungen und beginne den Ergebnissen entsprechend mit einer neuen, zielgerichteten Medikation.

Ein Grund, warum Herzkrankheiten bei Frauen oft nicht oder zu spät festgestellt werden, ist, dass Ärzte zu wenig darüber wissen. Zum einen, weil sie in ihrer Ausbildung kaum etwas über die Unterschiede zwischen Frauen- und Männerherzen lernen, und zum anderen liegt es an den lückenhaften Forschungsdaten. Frauen sind in den großen Gesundheitsstudien oftmals stark unterrepräsentiert.

Weniger als ein Drittel der Erkrankten in den Untersuchungen seien weiblich, kritisiert die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie. Deshalb seien geschlechtsabhängige Besonderheiten einer Krankheit, Ausprägung und Symptome nicht ausreichend erforscht. Becker berichtet zum Beispiel, dass die gängige Katheteruntersuchung oft nicht ausreicht. Sind etwa die Herzgefäße nicht verkalkt, wird eine mögliche Unterversorgung des Herzmuskels mithilfe eines pharmakologischen Tests überprüft.

Von Kollegen angefeindet

Allerdings hat Becker noch eine andere Erklärung dafür, dass viele Diagnosen unterbleiben: die gesellschaftliche Stellung. Frauen würde nach wie vor unterstellt, empfindlich und panisch zu sein, sagt der Kardiologe, klagen sie über Schmerzen, werde das eher heruntergespielt.

Dabei befürchtet der Mediziner eher, dass sie zu oft schweigen. Und er kann von Fällen berichten, in denen Männer laut um Hilfe riefen, als sie in den frühen Morgenstunden einen Herzinfarkt erlitten, während Frauen selbst dann noch leise Rücksicht nahmen und später Hilfe bekamen.

Eine von der Herzstiftung geförderte Studie Münchner Forscher stützt seine Schilderung. Demnach vergehen bei Frauen über 65 Jahren mit Herzinfarktsymptomen durchschnittlich mehr als viereinhalb Stunden, bis sie in die Notaufnahme kommen, bei Männern gleichen Alters dauert es eine Stunde weniger.

Außerdem macht es offenbar einen Unterschied, wer behandelt. Dafür liefert eine aktuelle Studie aus Japan im Fachjournal „Annals of Internal Medicine“ Hinweise. Wenn sich ältere Frauen im Krankenhaus von einer Ärztin statt von einem Arzt behandelt lassen, fiel die Sterblichkeitsrate bei bestimmten Erkrankungen etwas geringer aus.

Nach Eröffnung der Frauenherzklinik und mit Erscheinen seines aktuellen Buchs „Herzenssache – Warum Frauenherzen anders schlagen“ (Hoffmann und Campe, 271 Seiten, 18 Euro) bekam Becker den Unmut der Kollegenschaft zu spüren.

Der Kardiologe wurde am Telefon als unseriös, „nur ein Werbegag“, und als Verräter der Medizin beleidigt und sogar angezeigt. „Viele alteingesessene Ärzte ruhen sich auf ihrem Wissen aus“, erklärt Becker, ohne zu entschuldigen: Wer heute noch behaupte, dass es keine wissenschaftlichen Studien dazu gäbe, dass Frauen anders sind als Männer, dem könne er nicht helfen: „Das ist soooo falsch.“

Gemeinsam mit anderen Ärzten setzt er sich für eine Gendermedizin ein mit der Forderung, die Geschlechterunterschiede in den regulären Lehrplan aufzunehmen. Auch das medizinische Personal in Praxen und Kliniken müsse diesbezüglich geschult und sensibilisiert werden. Der Anteil von Frauen in medizinischen Studien sollte so weit erhöht werden, bis die Geschlechterverteilung der Bevölkerung entspricht.

Aber Becker nimmt auch die Frauen in die Pflicht: Statt sich unterzuordnen, die Ursache bei sich selbst zu suchen, sollten sie sich frühzeitig medizinisch untersuchen lassen. Und sie sollten den Notruf kontaktieren, wenn es nötig ist – nicht zu viel Zeit verstreichen lassen.

Er rät Frauen, die bemerken, dass sich ihr Herz anders verhält, eine Ärztin oder einen Arzt aufzusuchen, der oder dem sie vertrauen. Einen Mediziner, der sich Zeit nimmt nachzuforschen und seinen Patientinnen zuhört, ihr Leiden nicht kleinredet und gegebenenfalls an einen Spezialisten überweist.

„Häufig durchlaufen die Frauen eine jahrelange Schleife: Hausarzt, Lungenarzt, Magenarzt, Kardiologe, dann noch mal von vorne…“, sagt Becker. Oft gebe erst der Hinweis auf Psychopharmaka den Anstoß, sich weiter umzuhören und im Internet nachzuforschen. So landete Regina Wellmer am Ende doch im Frauenherz-Zentrum. Seit sie die richtigen Medikamente erhält, sind ihre Beschwerden verschwunden. Und sie kann sich und den Ärzten wieder vertrauen.