
12. Oktober 2025 · Rainer Maria Rilke wäre im Dezember 150 Jahre alt geworden. Eine Spurensuche zum Jubiläum in der Schweiz – mit Herbstmode, die sicher auch dem stilbewussten Dichter gefallen hätte.
Vier Tage lang nur war Rainer Maria Rilke in Sils. Eingeladen in das Engadiner Bergdorf hatte ihn seine dänische Übersetzerin, Inga Junghanns, die dort die Sommermonate verbrachte, um in Ruhe Rilkes einzigen Roman zu übertragen, die 1910 erschienenen „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Die Anwesenheit des Autors selbst konnte da nur nutzen, und Rilke war ja eh schon im Lande. Es war Ende Juli 1919 und der Dichter noch am Beginn eines Aufenthalts in der Schweiz, der dann mehr als sieben Jahre währen sollte, bis zu seinem Tod am 29. Dezember 1926 in Montreux. In dieser langen Zeit verließ er die Schweiz nur noch dreimal: für Städtereisen nach Paris und Venedig. Aber in der Eidgenossenschaft selbst war Rilke gerade anfangs viel unterwegs, denn die einsetzende deutsche Inflation verminderte seine in Franken einzutauschenden Buchtantiemen bedenklich.
Wollmantel mit Fellkragen zu schmaler Wollhose von Prada
Oversized-Mantel aus Curly Lamb zu Tuxedopants, Kummerbund und klassischen Schnürern von Dolce & Gabbana
Der Stein, der keine Worte kennt, doch Zeit und Ewigkeit bewahrt, er trägt in sich das stille Leben und zeigt dem Menschen seine Macht.
Neben wohlhabenden Gönnern (vor allem Gönnerinnen) war er deshalb auch auf Honorare aus Vorträgen angewiesen. Und auch wenn er in Sils keinen hielt, versprach er sich dort Inspiration für ein Vortragsthema durch die Begegnung mit den Lebensspuren eines von ihm seit 20 Jahren bewunderten Autors: Fredrich Nietzsche. Der hatte in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts regelmäßig seine Sommerferien im Ortsteil Sils Maria verbracht, und es ist kein Zufall, dass der ihm nachgereiste Rilke kurz nach seiner Abreise aus Sils einen Entwurf zu einer (nie gehaltenen) politischen Rede abfasst, in dem er ganz nietzscheanisch von „Weltmitternacht“ schreibt.
Samtblouson, Hemd und gerolltes kleines Seidencarré von Hermès
Graue Wollhose mit kleinen Beinschlitzen von Celine
Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.
Rilke residierte bei seinem Aufenthalt nicht in Sils Maria, sondern in Sils Baselgia, im dortigen Parkhotel Margna, aber er ging Nietzsches Spazierwege nach, darunter auch den berühmten auf die Halbinsel Chasté am Ostufer des Silsersees, heute Standort des Nietzsche-Gedenksteins. Südlich davon erhebt sich über dem See eine Anhöhe, auf der 1908 das Waldhaus errichtet worden war, bis heute eine der berühmtesten Hoteladressen der Schweiz, und auch wenn Rilke dort niemals abgestiegen ist – im Gegensatz zu Thomas Mann, Hermann Hesse, Friedrich Dürrenmatt und Thomas Bernhard – , ist das Haus mit seiner sorgsam bewahrten Atmosphäre der Belle Époque und der spektakulären Bergkulisse genau der richtige Schauplatz für ein Mode-Shooting, das sich zum Rilke-Jahr 2025 vom Aufenthalt des Dichters in Sils hat inspirieren lassen.
Die Einsamkeit ist wie ein Regen. Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen; von Ebenen, die fern sind und entlegen, geht sie zum Himmel, der sie immer hat. Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Rilke, der Jahrhundertdichter von zeitloser Popularität, und Mode? Das wirkt nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Tatsächlich war Rilke gerade in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bei seinen Aufenthalten in Berlin, Paris und München ein akribischer Beobachter des städtischen Lebens, was seinen Ausdruck dann im Ich-Erzähler des Romans, eben dem Titelhelden Malte Laurids Brigge, fand, der in vielem ein Alter Ego seines Autors ist. Gerade auch in seiner Betonung von Kleidung als Distinktionsmerkmal und als ein Mittel zur Selbstbestätigung. So erinnert sich Malte an seine kindlichen Verkleidungsspiele vor einem Spiegel: „Ich lernte damals den Einfluß kennen, der unmittelbar von einer bestimmten Tracht ausgehen kann. Kaum hatte ich einen dieser Anzüge angelegt, mußte ich mir eingestehen, daß er mich in seine Macht bekam; daß er mir meine Bewegungen, meinen Gesichtsausdruck, ja sogar meine Einfälle vorschrieb; meine Hand, über die die Spitzenmanschette fiel und wieder fiel, war durchaus nicht meine gewöhnliche Hand; sie bewegte sich wie ein Akteur, ja, ich möchte sagen, sie sah sich selber zu, so übertrieben das auch klingt. Diese Verstellungen gingen indessen nie so weit, daß ich mich mir selber entfremdet fühlte; im Gegenteil, je vielfältiger ich mich abwandelte, desto überzeugter wurde ich von mir selbst.“
Trenchcoat aus Baumwollgabardine von Brioni, Anzugvariante aus Bermuda und Wollhemd von Jil Sander, Slipper von Gucci
Melierter Strickpullover von Mey & Edlich und Ballonhose aus Filz mit Ledereinsatz von Marni
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Die Inszenierung ist ein Faszinosum für Rilke, wiederkehrendes Motiv seiner Dichtung und überhaupt ein Signum jener Epoche, die in Nachfolge von Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks ästhetisch-opulente Phänomene hervorbrachte wie die Wiener Secessionskunst und Diaghilews „Ballets Russes“. Rilke setzte das Schwelgerisch-Träumerische dieser Ästhetik in Worte um, in „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ etwa in folgender Passage: „Was mich aber in eine Art von Rausch versetzte, das waren die geräumigen Mäntel, die Tücher, die Schals, die Schleier, alle diese nachgiebigen, großen, unverwendeten Stoffe, die weich und schmeichelnd waren oder so gleitend, daß man sie kaum zu fassen bekam, oder so leicht, daß sie wie ein Wind an einem vorbeiflogen, oder einfach schwer mit ihrer ganzen Last.“ Der synästhetische Charakter solcher Schilderungen traf den Geist einer Zeit, die heute noch als avantgardistisch gilt.
Schmaler, dunkelbrauner Glencheckanzug und hellblaues Seidenhemd mit Stehkragen von Gucci
Steingrauer Kaschmirmantel von Ferragamo, farblich leicht unterschiedlicher „Broken Suit“ mit Nadelstreifen von Tom Ford, Kaschmir-Cardigan von Extreme Cashmere, Unterhemd von Zimmerli, Gürtelschnur von Dries Van Noten, Chelseaboots von Hermès
Mit den künstlerischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit hielt Rilke nicht mehr Schritt, wollte es auch gar nicht – er sah sich selbst als Kind einer untergegangenen Epoche, und als solches war ihm die von Krieg und Kriegsgeschrei verschont gebliebene Schweiz eine willkommene letzte Heimat. Nach Deutschland, wo der 1875 in Prag geborene Rilke an den verschiedensten Orten gewohnt hatte, zuletzt dann fast während des ganzen Ersten Weltkriegs in München, sollte er nie mehr zurückkehren. Dabei war dort der Großteil seines Publikums, und seine publizistische Heimat, Anton Kippenbergs Insel-Verlag, lag in Leipzig. Doch in der Schweiz sah Rilke nach dem für das Deutsche Reich katastrophalen Kriegsausgang und der dadurch ausgelösten Revolution vom November 1918 eine Zuflucht, die noch etwas vom Vorkriegs-Europa bewahrt hatte. Während auf der Pariser Friedenskonferenz noch um die letzten Formulierungen des Versailler Vertrags gerungen wurde, der sich als Todesurteil für die junge deutsche Republik erweisen sollte, fuhr Rilke am 11. Juni 1919 mit dem Zug von München nach Zürich.
Das ist mein Fenster. Eben bin ich so sanft erwacht. Ich dachte, ich würde schweben. Bis wohin reicht mein Leben, und wo beginnt die Nacht?
Gerippter Cardigan aus Baumwolle mit metallischen Lurexfäden, Schluppenbluse und klassische Anzughose von Valentino
Puderfarbenes Seidenhemd zum Mantel, der als langer Hosenrock getragen wird, von Dior, dazu Chelsea-Boots, ebenfalls von Dior
Er fand dort etwas vor, das er im ausgebluteten Deutschland lange nicht mehr gesehen hatte: reich bestückte Schaufenster. Seine Eindrücke aus der Zürcher Einkaufsmeile, der Bahnhofstraße, und seine dadurch ausgelöste Kauflust lassen sich den Briefen aus seinem ersten Halbjahr in der Schweiz an die in Deutschland verbliebenen Freunde entnehmen, und noch in den 1923 verfassten „Sonetten an Orpheus“ finden sich die von der damaligen Überwältigung inspirierten Gedichtzeilen „In den Geschäften entlang ist das Geld wie zuhause / und verkleidet sich scheinbar in Seide, Nelken und Pelz“. Rilke, vom Äußeren her ohnehin ein Dandy, fand sich plötzlich wieder in einem seiner Elemente: eben der Mode.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.
Tuxedo mit weißem Hemd und Overknee-Stiefeln von Saint Laurent by Anthony Vaccarello
Bikerjacke (hängt über dem Stuhl), Logostrümpfe und Strickkrawatten, alles von Louis Vuitton, Chelseaboots von Dior
Und so sah er sich damals auch als Dichter. Im Konzept zu einer Vorrede, die er im Oktober 1919 bei einem seiner Schweizer Vortragsabende hielt, heißt es betreffs seiner Überlegungen zu dessen Ablauf: „ich [werde] manches Gedicht hinzustellen haben [. . .], das Ihnen recht voraussetzungslos ja rücksichtslos erscheinen möchte, wenn Sie nicht gar (um dem Schlimmsten zuvorzukommen) es als eine Poésie de Luxe ungeduldig hinnehmen.“ Diese Luxusdichtung aber war für Rilke selbst durchaus kein Schimpfwort. Vielmehr ist in seiner Dichtung das ihm Wesentliche einer Zeit bewahrt, die Europa außerhalb der Schweiz verlorengegangen war: der Luxus als Ausdruck einer Verfeinerung, die sich nicht mehr mit den elementaren Nöten hatte aufhalten müssen, sondern ganz Kunst werden konnte. So gesehen ist es nur konsequent, dass den Fotos der Modestrecke aus Sils vor allem Zeilen aus Rilkes Gedichten zugrunde liegen. Poésie de Luxe für das Luxusprodukt Mode.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.
Nachtblauer Wollblouson mit Keulenärmeln von Dries Van Noten, Glencheckhose aus Kaschmir von Brunello Cucinelli, Chelseaboots von Hermès
Ausgestellte Regenjacke mit Cordkragen und hohe Lederstiefel von Loewe, melierter Pullover von Tod’s, Shorts aus dunkelgrünem Cord von Polo Ralph Lauren
Fotografie: Michele Di Dio
Styling und Konzept: Natalie Manchot
Produktion: Joe Berger (Production Pool)
Videografie: Rosa Lisa Di Natale
Model: Jakob Zimny (Initial)
Make-up und Haare: Linda Sigg (4Artists Management)
Styling-Assistenz: Tallulah Görtz
Wir bedanken uns beim Hotel Waldhaus Sils für die freundliche Unterstützung.
Fotografiert am 26. Juli 2025 in Sils Maria