„Helsinki Debate on Europe“ zur KSZE-Schlusskakte 1975


Finnland feiert seinen späten Frühling in aller Intensität. Zarte gelbe und weiße Wiesenblumen übersähen die Sockel aus schwarzem Granit, der in Helsinki als Stein der Nation allgegenwärtig ist. Auch das hyazinthenumstandene schwedisch-finnische Kultur- und Kongresszentrum Hanaholmen auf einer Halbinsel in Helsinkis Nachbargemeinde Espoo verströmt mit seiner Siebzigerjahre-Wucht Aufbruchstimmung. Unter dem monumentalen Wandfresko im Eingangsbereich versammelten sich schon viele Staats- und Ehrengäste, bevor sie ihre Unterhaltungen in der hauseigenen Sauna samt Pool mit Meerblick ausklingen ließen. 1967 wurde zum fünfzigsten Jubiläum der Staatsgründung Finnlands der Architekt Veikko Malmio mit dem binationalen Repräsentationsbau beauftragt.

Der in Wien beheimatete schwedische Journalist und Mitbegründer von „Eurozines“, Carl Henrik Fredriksson, veranstaltet seit mehr als zehn Jahren die Diskussionsreihe „Debates on Europe“. Ihm und den Mitorganisatoren S. Fischer Stiftung, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und dem in Berlin ansässigen Finnland Institut erschien Hanaholmen als idealer Ort, um ein Jubi­läum zu begehen, das vor einem halben Jahrhundert das Ende des Kalten Krieges einläutete: die am 1. August 1975 in Helsinki von 35 Staaten unterzeichnete Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE).

Der titelgebende Schmetterlingseffekt der KSZE-Konferenz entstand vor allem durch den sogenannten dritten Korb, auf den Westeuropa, die USA und Kanada damals größten Wert legten. In ihm ging es um die Menschenrechte: die Freiheit der Auswanderung sowie Familienzusammenführung, Pressefreiheit und kulturellen Austausch über Blockgrenzen hinweg. Mit der KSZE-Schlussakte lag erstmals ein Dokument vor, auf dass sich Dissidenten und Bürgerrechtsbewegungen im Warschauer Pakt berufen konnten – eine Entwicklung, die im Fall der Berliner Mauer kulminierte.

Gibt es einen „Fluch von Jalta“?

Die Sowjetunion hatte ihren kleinen Nachbarn Finnland jahrelang zur Abhaltung einer blockübergreifenden Konferenz gedrängt, mit der die in Jalta fest­gelegten Nachkriegsgrenzen zementiert werden sollte; vom „Fluch von Jalta“ sprach nun mehrfach der deutsche Schriftsteller Durs Grünbein. Mit einem Schmunzeln löste Pertti Torstila, 1975 für Finnland an den Verhandlungen beteiligt, nun das Rätsel, warum auf dem riesigen hektagonalen Konferenztisch seinerzeit französische Länderschilder standen: Westdeutschland (République Fédérale d’Alle­magne), vertreten durch Bundeskanzler Helmut Schmidt, bestand darauf, neben der République Démocratique Allemande und damit Erich Honecker zu sitzen. Im sonst üblichen englischen Alphabet wären Finnland und Frankreich dazwischengekommen.

Das war einer der wenigen heiteren Momente bei dieser „Debate on Europe“. Durchweg alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer betonten den Ernst der Lage angesichts der permanenten Bedrohung durch Russland. Sein ganzes Leben lang habe er zwei Probleme gehabt, bekannte der slowakische Journalist und frühere Dissident Martin M. Šimečka: die Angst vor den Russen und dass Westeuropäer ihm diese Angst nicht glauben würden.

Seit Dezember 2023 ist die 1340 Kilometer lange Grenze zwischen Finnland und Russland geschlossen, was insbesondere der russischen Minderheit im öst­lichen Landesteil Karelien Probleme bereitet. Die „Debates on Europe“ verhandeln stets geopolitische sowie kulturelle Fragen. So quetschte sich im 2024 eröffneten Tekstin Talo (Haus des Textes), einer umgebauten Brotfabrik, Grünbein mit seinen Kolleginnen Monika Fagerholm und Emma Puikkonen auf ein schmales Sofa, um über die „Narrative der Transformation“ zu sprechen. Fagerholm widmete dem energetischen Sommer 1975 mit „The American Girl“ einen Roman. Finnland habe sich damals als KSZE-Gastgeber „on the top“ gefühlt; sie hingegen empfinde sich heute nur noch als machtlos und zynisch, bleibt aber literarisch produktiv.

Erholung gab es nur außerhalb der Debatte

Ihren angemessenen Abschluss fand die Tagung, in der es viel um Erinnerungsorte ging, in Alvar Aaltos Spät- und Meisterwerk, der marmornen Finlandia-Halle im Zentrum der Stadt. Auf der Freifläche zwischen ihr und der neuen Bibliothek in Gestalt einer Riesenwelle aus Holz und Glas versammelten sich mobile Mini-Saunen zu einer für jedermann nutzbaren „Saunavision“. Erholung tat gut: Im Kammermusiksaal warnte derweil der Historiker Karl Schlögel vor dem Stress, der den europäischen Gesellschaften bevorstehe. Man war sich in der düsteren Erkenntnis einig, dass Menschenleben in Russland nicht zählen, was dem Aggressor nicht nur im Krieg gegen die Ukraine einen zynischen Vorteil bietet.

Einen Schlussakkord ganz in Moll setzten die aus Lappland stammende Autorin Rosa Liksom und ihr Kollege Sergei Lebedev. Liksom, die in ihrem jüngsten Roman „Über den Strom“ die Grauen des deutsch-finnischen Krieges 1944 thematisiert, ging spontan auf dieses heute fast unbekannte Ereignis ein. Da die Wehrmacht beim Rückzug alles verbrannte und mehr als 100.000 Minen legte, hatte der Lappland-Krieg nicht zuletzt verheerende ökologische Folgen. Der in Potsdam lebende Exilrusse Lebedew beschrieb in „The World of Tomorrow“, dass Putin nicht nur die Ukraine unterwerfen wolle, sondern als Rache für den Untergang der Sowjetunion den Kollaps der EU anstrebe. Es sei höchste Zeit, das zu erkennen. Als Lebedev seinen aufrüttelnden Vortrag beendet hatte, wurden draußen vor der Halle die Mini-Saunen in aller Ruhe wieder abgebaut.