Helgoland: Die stille deutsche Nordseeinsel

„Funny Girl“ ist in Tanzlaune. Auf der Fahrt von Büsum nach Helgoland rockt das Motorschiff die aufgewühlte Nordsee. An Deck halten Passagiere Spucktüten parat, andere versuchen mit einem beherzten Sprung der spritzenden Gischt zu entkommen. Nach zweieinhalb Stunden gibt der Klabautermann Ruhe. Helgoland in Sicht!

Endlich schaukelt „Funny Girl“ im ruhigen Gewässer, da nähern sich vom Hafenkai offene Boote. Begleitet von Hunderten kreischender Möwen schippern Börteboote seit fast 200 Jahren Touristen zur Landungsbrücke. Weil das Linienschiff nicht im Hafen ankern kann, werden Besucher „ausgebootet“, das heißt, zum Festland gebracht. Auf der Landungsbrücke wartet Gästeführerin Iris Schneider. „Riecht ihr was?“ Nur Meer und Salz. Ein staubfreies Lüftchen weht auf dem 4,2 Quadratkilometer kleinen autofreien Nordseeflecken und durchflutet die Lunge mit reiner Seeluft.

Der Fußmarsch vom „Unterland“ in die zweite Inseletage zum „Oberland“ führt über einen Fahrstuhl – oder eine zickzackförmige Treppe. Als es Lift und Elektrokarren noch nicht gab, mussten Bewohner sämtliche Lasten über 184 Stufen mit Muskelkraft ins Oberland schleppen. Wer heute „unbelastet“ zur Aussichtspromenade hinaufsteigt, blickt auf ein abgetrenntes Düneneiland. Eine Sturmflut riss Helgoland 1720 in zwei Teile.

Strategische Überlegungen an das Nordseeidyll planerisch Hand anzulegen, entwickelten in den 1930er-Jahren die Natio­nalsozialisten. Das Projekt „Hummerschere“ scheiterte zwar, zog aber die totale Zerstörung Helgolands nach sich. Im April 1945 bombardierten fast 1000 britische Flugzeuge nicht nur militärische Anlagen und legten die Insel in Schutt und Asche. 285 Soldaten starben, die meisten Einheimischen retteten sich in tief gelegene Luftschutzbunker. Nach der Evakuierung der Insel nutzten die Briten Helgoland als Übungsziel für Bombenabwürfe. Erst 1952 gaben sie die verwüstete Insel frei, die Insulaner durften zurückkehren. Bunker und gewaltige Krater lassen Besucher 80 Jahre nach Kriegsende immer noch in einen finsteren Abgrund schauen.

Ilse Töpfer ist eigentlich Requisiteurin, hat sich aber entschieden, Touristen die Reize ihrer Wahlheimat zu zeigen. Rund 1270 Menschen, zahlreiche Kegelrobben und mehr als 400 Vogelarten teilen sich die Insel. Eissturmvogel, die Trottellumme oder Basstölpel, alle haben in den sturmumtosten Wänden der Felseninsel ihr Brutquartier. Vogelbeobachtern bietet sich insbesondere von Frühjahr bis Spätherbst aus nächster Nähe eine Open-Air-Show mit Meerblick. Der Rundgang auf dem Klippenrandweg im flachen grünen Oberland ist der direkte Weg in ein Naturparadies mitten im Meer. „Ein Paradies mit von Menschen verursachten Schönheitsfehlern“, relativiert Ilse Töpfer an der Nordwestspitze vor der „Langen Anna“. Tausende schnatternder Vögel tummeln sich auf dem 47 Meter aus dem Meer ragenden Naturdenkmal der Hochseeinsel und auf dem nahen schroffen Lummenfelsen. Gar nicht tölpelhaft stoßen Basstölpel von den rostroten Felswänden in die Nordsee. Auf ihrer Jagd nach Hering und Makrele erreichen die Luftakrobaten bis zu 100 Stundenkilometer. Auch die Trottellumme mit ihrem ungelenk wirkenden, watschelartigen Gang führt ihren Namen ad absurdum, wenn sie im Wasser pfeilschnell nach kleinen Fischen taucht. Dank torpedoartiger Flügelschläge sind die „Pinguine des Nordens“ zwar blitzschnell, in der Luft aber nicht sehr wendig. Autsch! Da passiert schon mal eine Kollision mit einem anderen Zeitgenossen.

Im Juni bittet der Nachwuchs zum großen Abendspektakel. Die erst bedingt flugfähigen Trottellummen-Küken zieht es früh in ihr nasses Element. Todesmutig – nach scheuem Zögern und Warten – stürzen sich die flauschigen Meeresvögel das erste Mal vom Felsen hinab ins Wasser, wo ihre Eltern sie leichter mit Nahrung versorgen können. Und was leuchtet da rot, gelb und blau in den Felsspalten? Nester mit Plastik! Ihre Kinderstuben bauen die Basstölpel auch mit Müll und Kunststoffen, die sie in der Nordsee finden. Oft verschlucken sich die Eltern an dem Unrat, sterben elendig und können ihre Küken nicht mehr ernähren, weiß Iris Töpfer.

Ein letzter Blick zu flatternden Austernfischern und Dreizehenmöwen, dann geht es von der Unterstadt mit der Dünenfähre nach „Robbenland“. Himmlische Stille. Am Nordstrand fläzen die massigen Flossenfüßer gemächlich in der Sonne. Auch hier gilt: Abstand halten. Mindestens 30 Meter, mahnt eine Rangerin. Wenn ab November die Babyrobben zur Welt kommen, würden uneinsichtige Besucher leider allzu oft dem Nachwuchs mit Kameras auf den weißen Pelz rücken, bedauert die Rangerin. Einem anderen Meeresbewohner dürfen Inselgäste indes ohne Einschränkung näher kommen. Als delikate Insel-Spezialität ist der Knieper („Kneifer“) in aller Munde. Andere eiweißreiche Hochgenüsse wie zum Beispiel frische Fischbrötchen gibt es in Helgolands Hummerbuden.

Die in den 1950er-Jahren gebauten bunten Holzhäuschen reihen sich wie Farbwürfel in einem Malkasten die Hafenstraße entlang. In den Schuppen lagerten Fischer früher Hummerkörbe, Aalstecher und Stellnetze. Heute sind auf der Touristenmeile Cafés, Galerien sowie das James-Krüss-Museum untergebracht. In seinem Kinderbuch „Mein Urgroßvater und ich“ hat Helgolands Schriftsteller 1959 dem Leben auf dem Felssockel und den Buden ein Denkmal gesetzt.