Hannover 96 in zweiter Fußball-Bundesliga: Das Spiel mit der Wahrscheinlichkeit


Das neue Sommerferien-Rätsel von und mit Hannover 96 ist gespickt mit anspruchsvollen Denksportaufgaben. Am Rande des Trainingsplatzes, in den Stadtbahnen und in den Kneipen macht es Spaß, Fußballbegeisterten dabei zuzuhören, wie sie sich aus ziemlich vielen neuen Namen und Gesichtern ein frisches Bild von ihrem Lieblingsverein basteln. Wie heißt der Spieler doch gleich? Ist das der erste oder zweite Torwart?

Wer als Profiverein mit 16 Zugängen in die neue Saison der zweiten Fußball-Bundesliga startet, fängt sich viel Aufmerksamkeit und Neugier plus kritische Fragen ein. Warum bloß hat Hannover 96 beschlossen, den Kader so grundlegend zu verändern? Die Antwort darauf gibt Marcus Mann: „Man kommt in Hannover um das Wort Aufstieg gar nicht herum“, sagt der Geschäftsführer des Vereins.

In den Wochen der Saisonvorbereitung hat der Verein ständig zu Fototerminen eingeladen. Aber nach seinem Aufstieg vom Sportdirektor zum Geschäftsführer hat es Mann geschafft, nahezu alle Transfers bis auf den letzten Drücker geheim zu halten. Leih- und Kaufspieler aus zwölf Nationen sollen dabei helfen, die Sehnsucht nach dem Aufstieg zu stillen. Mann formuliert das gerne so: Er will Wahrscheinlichkeiten erhöhen.

Den Reset-Knopf gedrückt

Schon im siebten Jahr träumt Hannover von der Rückkehr in die erste Liga und hat so fest wie noch nie auf den Reset-Knopf gedrückt. Mit Cheftrainer Christian Titz, der dem 1. FC Magdeburg abspenstig gemacht werden konnte, und Ralf Becker als Sportdirektor ist auch die Sportliche Leitung neu besetzt. Trotzdem lässt das Wimmelbild Hannover 96 schon scharfe Konturen erkennen. „Die Mannschaft hat sich bis jetzt gut gefunden“, sagt Titz. Zum Saisonstart gab es einen verdienten 1:0-Heimsieg gegen den 1. FC Kaiserslautern, an diesem Samstag (13.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur zweiten Liga und bei Sky) folgt die Partie gegen Fortuna Düsseldorf.

Verblüffend am Einstand von Titz, Becker und dem rund 30 Profis starken Spielerkader ist: Die Begeisterung in Hannover könnte kaum größer sein und verdrängt die Skepsis. „Es hat sich sehr gut angefühlt, in das Stadion einzulaufen“, gestand Mannschaftskapitän Enzo Leopold angesichts des mit 49.000 Zuschauern ausverkauften Saison-Auftaktspiels gegen Kaiserslautern.

Leopold führt ein stark verjüngtes Team an, das im Auftrag von Titz dominanten, offensiven und attraktiven Fußball spielen soll. Um dieses Ziel zu erreichen, ist auch auf der Position des Torhüters ein herber Einschnitt erfolgt. Statt des langjährigen Schlussmanns Ron-Robert Zieler, der nun Reservist beim Erstligaklub 1. FC Köln ist, vertraut Titz aktuell dem 22 Jahre jungen Nahuel Noll, der von der TSG Hoffenheim ausgeliehen wurde. Der Auftrag an den Novizen lautet: bei Ballbesitz weit vor dem eigenen Tor stehen, den Spielaufbau unterstützen und einen Beitrag zu mehr Spektakel leisten.

Es ehrt die clevere Transferstrategie von Mann und die risikofreudige Spielidee von Titz, dass Hannover hartnäckig als einer der ersten Favoriten auf den Aufstieg gehandelt wird. Diese Rolle anzunehmen, verlangt Mut und Überzeugungskraft. In den vergangenen Jahren hat sich der Verein meist an zu hohen Erwartungen und internen Streitigkeiten verhoben. Nichts gegen Kaiserslautern, aber die wirklich schwierigen Bewährungsproben warten auf Titz, sobald der Streit zwischen Vereins- und Kapitalseite wieder aufbricht.

Der Kampf um Macht und Eitelkeiten sowie um die Frage, ob die 50+1-Regel in Hannover angesichts schwammiger Entscheidungswege eingehalten wird, ist noch nicht final ausgefochten. Aktuell profitiert der Verein davon, dass die lokalen Medien kein frisches Futter rund um Mehrheitsgesellschafter Martin Kind finden. Er hat den Verein mehr als zwei Jahrzehnte lang maßgeblich geprägt und unterstützt. Seine Ungeduld im Fall von Misserfolg war allerdings ein treuer und nicht immer förderlicher Begleiter.

Das große Geheimnis bleibt, wie es Hannover geschafft hat, in kürzester Zeit vom Skandalklub zum Aufstiegskandidaten zu werden. Die griffigste ­Begründung dürfte lauten: Kind lässt Mann machen, Mann vertraut Titz, und Titz wiederum triggert leistungswillige Spieler. 16 Profis aus aller Welt zu inte­grieren und zu motivieren ist eine knifflige Aufgabe. Eine Autobahnstunde von Hannover entfernt hat es Felix Magath beim VfL Wolfsburg einst geschafft, neue Spieler in Serie zu verpflichten, um dann gnadenlos auszusieben und 2009 deutscher Meister zu werden.

Titz fordert in sehr langen Trainingseinheiten auch sehr viel ein, geht aber als Vorgesetzter einen weniger brachialen Weg. Jungen Spielern beschert er Spielpraxis in der Regionalliga-Reserve des Vereins. Den Siegtreffer gegen Kaiserslautern schoss Noël Aséko, der 19 Jahre jung und vom FC Bayern München ausgeliehen ist. In der Rückrunde der vergangenen Saison durfte der smarte Mittelfeldspieler so gut wie gar nicht in Erscheinung treten. Es war eine Spielzeit voller Ärger, Streit und Trainerwechsel. Mit Titz hat eine Saison begonnen, in der ausgerechnet in Hannover das Glas in jeglicher Hinsicht nicht mehr halb leer, sondern halb voll ist.