
Es ist Mitternacht, als sich Hannes Blank auf sein Rennrad setzt. Die Straßen im südhessischen Gundernhausen sind still und verlassen. Vor ihm liegen rund 600 Kilometer – eine Strecke, die er an einem einzigen Tag bewältigen will: von Gundernhausen nach Berlin. Für Blank ist eine solche Fernfahrt kein einmaliges Erlebnis, sondern fast schon Routine. Berlin, München, Salzburg, Paris, all das schafft er an einem Tag.
Nachts auf der Landstraße – „natürlich ist das gefährlich“, sagt Blank. „Aber ich habe mir abgewöhnt, mich über Autofahrer aufzuregen, die knapp überholen. Solange nichts passiert, zählt jeder Millimeter, der mich nicht vom Rad holt.“ Gefahr droht nicht nur von Autofahrern.
„Auf dem Rad war ich frei“
Auch von Tieren. „Im Dunkeln ist das manchmal heikel. Waschbären, Wildschweine, Füchse, Rehe sehe ich oft erst im letzten Moment. Aber es ist noch immer gut gegangen.“ Nach Berlin ist er schon öfter gefahren. Er kennt die Strecke. Während der ersten Stunden hört er Podcasts: Politik, Wirtschaft, Technik, Zeitgeschehen. Ein Bildungsbürger auf dem Rennrad. Die Landstraße sein Hörsaal.
Blank ist 41 Jahre alt. Als Kind will er Mountainbike fahren. Weil es im Verein aber nur Straßentraining gibt, spart er sich ein Rennrad zusammen. So fängt alles an. „Auf dem Rad war ich frei. Das war mein Ding. Ich konnte einfach losfahren – allein. Das hat mir immer am meisten Spaß gemacht. Vielleicht fahre ich deshalb auch heute noch so gern diese langen Strecken.“

Mit 16 nimmt er an seinem ersten Rennen teil und wird Zehnter – ein erster Hinweis auf sein Talent. Nach dem Abitur beginnt er 2006 mit 23 Jahren seine Profikarriere. Für das deutsche Continental Team Lamonta gewinnt er die U-23-Wertung bei der Bayern-Rundfahrt und eine Etappe des Circuito Montañes in Spanien.
Ein Jahr später wechselt er zum Luxemburger Continental Team Differdange, für das er Siege bei der Korea-Rundfahrt und dem Tartu Grand Prix in Estland einfährt. 2009 beendet er mit 26 Jahren seine Profikarriere. Aus dem fernen Traum, einmal bei der Tour de France dabei zu sein, ist nichts geworden. Letztlich ist es aber auch darum gegangen, ein paar Jahre Profiluft zu schnuppern und den Horizont zu erweitern.
„Wie eine enttäuschte Liebe“
Mit 26 Jahren startet Blank in ein neues Leben. Auf dem Rennrad hat er eine neue Passion gefunden. Er war viel im Osten unterwegs. Bei Rennen im Baltikum, in Tschechien, bei der renommierten Polen-Rundfahrt. Vor allem Estland hatte es ihm angetan. Die Aufbruchstimmung, die schon damals vorbildliche Digitalisierung, die Naturverbundenheit und Sportbegeisterung der Menschen, die Kultur. All das gefiel ihm, und so schrieb er sich an der Uni Köln, später in Heidelberg und Gießen, für Rechtswissenschaften und Osteuropastudien ein.
Mit Radsport will er erst einmal nichts mehr zu tun haben. „Es fühlte sich an wie eine enttäuschte Liebe“; sagt er. „Du hast dafür jahrelang alles geopfert, und wenn du aufhörst und nicht gerade ein Star warst, merkst du schnell, dass du nur eine Rückennummer warst. Von der ganzen Liebe, die du investiert hast, kommt in keiner Weise etwas zurück.“
Blank verkauft alle seine Räder. Aber wer einmal auf dem Rennrad saß wie er, der kommt davon nicht los. Eine Wette bringt ihn zurück in den Sattel. Wenn er 5000 Follower auf Facebook habe, sagt ein Freund, müsse er wieder ein Rennen fahren. Blank schlägt ein. Die 5000 sind schnell erreicht, dann findet sich noch ein Sponsor, der ihm ein Rad gibt. Blank fährt ein paar Kriterien während des Studiums und dann auch in Russland, in Sankt Petersburg und Moskau, wo er nach seinem Master-Abschluss von 2016 an als Unternehmensberater arbeitet.
2018 kehrt Blank nach Deutschland zurück. Mit Russland hat er abgeschlossen. Sein Eindruck: Militarisierung schon im Kindergarten, Korruption auf allen Ebenen, der schöne Schein der großen Städte, die Armut drum herum – er sieht dort für sich und seine Frau keine Zukunft. Er geht für zwei Jahre als Berater zu Volkswagen, arbeitet in Wolfsburg, lebt in Berlin.
Training mit Degenkolb und Rutsch
Dann die Corona-Pandemie. Blank zieht zurück nach Hessen, arbeitet seither bei einem Bauunternehmen in Frankfurt als Spezialist für Datenschutz und Compliance. Und er fährt Rad. Corona ist dafür eine gute Zeit. Freie Straßen. Gutes Wetter. Seither fährt er Jahr für Jahr wieder mehr als 30.000 Kilometer. Er fährt zur Arbeit nach Frankfurt. 45 Kilometer hin, und zurück noch ein paar Schlenker dazu, das summiert sich mit der Zeit. Am Wochenende Ausflüge von 250, 300 Kilometern Länge, dazu Fernfahrten wie die nach Berlin.
Training mit den Radprofis John Degenkolb und Jonas Rutsch und mit dem Speedskater und Eisschnellläufer Felix Rijhnen, auch er ein schneller Mann auf zwei Rädern. Beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring legt Blank als Einzelstarter 600 Kilometer zurück. Er fährt nach Luxemburg, nach Roubaix. Er gewinnt zweimal die 300 Kilometer lange Amateurversion von Mailand–Sanremo – und fährt die 1200 Kilometer vom Ziel in Sanremo nach Gundernhausen in fünf Etappen mit dem Rad zurück – im Siegertrikot von Sanremo.
Eine Tourenfahrt für Amateure
Viele Italiener sprechen ihn an. Du bist mitgefahren? Ich habe gewonnen! Da gibt es dann viel zu erzählen, bei einem Espresso, bei einem Spritz. Und dass das Fausto-Coppi-Museum in Castellania schon geschlossen hat – kein Problem. Man schließt es auf. Nur für ihn, den tedesco, der Milano–Sanremo gewonnen hat.
Im vergangenen Sommer macht Blank Urlaub am Lago Maggiore – das Rennrad im Gepäck. Da schreibt ihm ein Freund, in der Nähe finde in Varese der Granfondo „Tre Valli Varesine“ statt, eine Tourenfahrt für Amateure. Ob er nicht mitfahren wolle? Blank will und hat drei Tage Zeit, sich vorzubereiten. Er trainiert zwei Tage intensiv, besorgt das geforderte ärztliche Attest und meldet sich in letzter Minute an.
Qualifikation für die WM
Blank fährt in der Altersklasse 40–44. Im Feld von 125 Startern orientiert er sich am Weltmeister und findet eine schnelle Gruppe. Die Strecke: 130 Kilometer, 2500 Höhenmeter. Nach 3:35:00 Stunden Fahrzeit erreicht Blank das Ziel und wird Zehnter in seiner Altersklasse.
Als er seine Startnummer abgibt, bekommt er neben einer Teilnehmermedaille noch eine Qualifikationsmedaille. Wofür die sei, fragt er. Man erklärt ihm, dass er sich für die Weltmeisterschaft qualifiziert habe. Das Rennen in Varese sei eines von weltweit zwanzig, bei denen man sich für die Granfondo-WM des internationalen Radverbandes UCI qualifizieren kann, die in diesem Jahr im dänischen Aalborg stattfindet. Blank überlegt. Eine Weltmeisterschaft? Die sollte man sich nicht entgehen lassen.
Bei Hitze, Kälte, Regen, Frost
Vier Wochen hat er Zeit, um sich vorzubereiten. Er kramt alte Trainingspläne aus seiner Profizeit hervor. Das Training wird zu einer Zeitreise. Blank hört wieder die alte Musik – Foo Fighters – und baut den harten Anstieg bei Michelstadt im Odenwald wieder in sein Programm ein. Dort hatte er sich schon als Profi mit intensiven Sprints in Form gebracht. Jetzt trainiert er morgens vor der Arbeit, startet bei Sonnenaufgang. Sein Ziel: ein Platz in den Top Ten bei der WM. Blanks Freund, der Frankfurter Spitzenprofi John Degenkolb, versorgt ihn mit Trikot und Outfit der Nationalmannschaft – Pflicht für Starter bei der WM. Dann geht es nach Aalborg.
Was das Material betrifft, die Rennmaschinen, fährt Blank seit zwei Jahren Prototypen des Koblenzer Radbauers Canyon. Was Tour-de-France-Profis im nächsten Jahr bekommen, fährt Blank schon in diesem. Er ist Testfahrer der Aero-Topmodelle. Sein Job? „In erster Linie fahren, möglichst viel.“ Man kann die Rahmen und Anbauteile auch im Labor harten Bedingungen aussetzen, aber die Wahrheit erfährt man auf der Straße. Sie zu finden – dafür ist Blank der richtige Mann. Einer, der im Jahresschnitt rund 100 Kilometer pro Tag fährt, bei jedem Wetter, bei Hitze, Kälte, Regen, Frost.
„Der Kurs war genau mein Ding“
Die WM in Aalborg beginnt für Blank nach Plan. „Der Kurs war genau mein Ding: schmale Straßen, knackige Anstiege, dazu viel Wind.“ Mit zwei Fahrern, die er aus Varese kennt, kämpft er sich nach vorne. Nach 40 Kilometern reißt das Feld auseinander. Blank hält sich in der Spitzengruppe von zunächst zwanzig Fahrern, schließlich sind sie nur noch zu fünft: ein Däne, zwei Franzosen, ein Schwede – und er.
Das Podium, vielleicht sogar der Sieg sind in Reichweite. Doch dann passiert es. Platten am Hinterrad. Aus der Traum. Während die Konkurrenten davonfahren, wechselt Blank den Schlauch. Tief enttäuscht rollt er weiter. „Ich hatte eine perfekte Vorbereitung und war super drauf. Und dann so ein Pech!“ Auf ein Neues im nächsten Jahr? Vielleicht.
„Sonst hätte er mich abgefüllt“
Zurück zur Fahrt nach Berlin. Gegen sechs morgens macht Blank einen ersten Stopp beim Bäcker in Meiningen. Weiter geht es durch den Thüringer Wald. „Ich liebe Oberhof und die Gegend dort“, sagt Blank. Die Wälder, die Luft, die Ruhe. So eine Tour bietet aber nicht nur malerische Eindrücke, sondern auch überraschende Begegnungen.
In Weißenfels, einer kleinen Stadt 30 Kilometer vor Leipzig, führt ihn der Weg durch eine Kleingartenkolonie. Dort weht – Überraschung! – eine Fahne der Frankfurter Eintracht im Wind. Zeit für eine Pause. „Da saß der Vorsitzende vom Eintracht-Fanclub Weißenfels und Region in seiner Laube“, erzählt Blank. Dazu ein Gartenzwerg im Eintracht-Look und ein Miniatur-Adler. „Zum Glück gab es auch alkoholfreies Bier“, sagt Blank. „Sonst hätte er mich abgefüllt.“
„Kurz gefühlt wie Tadej Pogacar“
Weiter nach Leipzig. Der Wind bläst von schräg vorn. Noch 190 Kilometer bis Berlin. Bis zum Ziel, dem Brandenburger Tor. Ein Selfie dort, dann ab ins Hotel. Essen, Schlafen und am nächsten Morgen mit dem Zug zurück in die Heimat. Die Bahn hat mal wieder ein Problem. Kein Halt in Darmstadt, sondern Durchfahrt bis Mannheim. Kein Problem.
Blank steigt in Frankfurt aus, setzt sich aufs Rad und fährt heim nach Gundernhausen. 40 Kilometer. Ein Katzensprung. Am Ende des Jahres steht ein persönlicher Rekord. Zum ersten Mal knackt Blank die Marke von 40.000 Kilometern. Am Ende einer frostigen Woche mit 908 Kilometern und einer Fahrt mit John Degenkolb zeigt der Computer 40.144,3 Kilometer an. „Da habe ich mich mal kurz gefühlt wie Tadej Pogacar“, sagt Blank.