Handball-Zweitligist TV Großwallstadt: Zurück in Trippelschritten – Sport

Als der Zorn des Volkes über den Schiedsrichtern niederging, zeigte Michael Spatz keine Regung. Da war kein Zucken, kein Zetern, nichts. Der Geschäftsführer des TV Großwallstadt, weißes Hemd, Dreitagebart, stand zwei Schritte hinter der Spielerbank und lehnte sich an ein Geländer, als die Zuschauer oben auf der Tribüne tobten. Einige klatschten hämisch in die Hände, manche riefen „Schieber! Schieber!“ Einer wedelte sogar mit einem 50-Euro-Schein. Aber Spatz, 42, ließ sich nicht mehr mitreißen. Er hatte aufgegeben.

Großwallstadts Geschäftsführer wusste, dass seine Mannschaft dieses Spiel gegen den TV Hüttenberg schon lange verloren hatte. Und so war es für ihn nicht mehr als eine Randnotiz, dass die Schiedsrichter erst Felix Wullenweber und dann auch noch Ben Connar Battermann Rot zeigten. Gewinnen, das war Spatz schon in dem Moment am Geländer klar, würde der TVG dieses Spiel ohnehin nicht mehr. Später wird er sagen: „Gefühlt war es nach den ersten zehn Minuten verloren.“

Das 30:37 gegen Hüttenberg, es war bereits die dritte Niederlage im vierten Saisonspiel, und schon jetzt sagt Spatz Sätze, die nach Abstiegskampf klingen. Etwa diesen: „Im Oktober kommen die Mannschaften, gegen die wir punkten müssen, um ins Mittelfeld zu klettern.“ Nur darum geht es für den TVG, auch in seinem sechsten Jahr in der zweiten Handball-Bundesliga: sich von den letzten zwei Plätzen der Tabelle fernzuhalten. Durchzukommen. Aber müsste dieser einst so erfolgreiche Klub nach derart langer Zeit in der Zweitklassigkeit nicht eigentlich den Anspruch erheben, bald wieder in der Bundesliga zu spielen?

Um höhere Ziele ausrufen zu können, braucht es mehr Geld und Beständigkeit

Wenn Spatz erklärt, warum Großwallstadt immer noch ein Verein im Aufbau ist, sagt er: „Es ist auch ein wirtschaftlicher Faktor.“ Mit einem Etat von 1,8 Millionen Euro bewegt sich der TVG im Mittelfeld; Geld, um Spieler zu verpflichten, die die Mannschaft signifikant voranbringen, ist schlichtweg nicht vorhanden. „Unser Kader ist gut“, findet Spatz: „Aber für mehr als einen Mittelfeldplatz fehlt uns noch der eine oder andere, der uns verstärkt. Einige Gesellschafter wollen sich auch mehr einbringen und ihr Netzwerk als Multiplikator nutzen und große Sponsoren aktivieren. Da sind wir dran.“ Der TVG ist also unterwegs. Nach wie vor. Doch das Ziel ist in weiter Ferne.

Als Spatz noch nicht die Geschäfte führte, sondern als Rechtsaußen selbst Tore warf, war Großwallstadt noch Bundesligist. Später schreckte er zwar auch nicht davor zurück, mit seinem Verein bis in die dritte Liga hinunterzugehen, doch sein Name steht bis heute für die besseren Tage des TVG.

Obwohl der Klub 2013 aus der Bundesliga abstieg und 2015 in die Insolvenz schlitterte, belegt er bis heute den sechsten Platz in der ewigen Tabelle. Die Großwallstädter sind sechsmal deutscher Meister geworden, sie haben viermal den Pokal gewonnen, zweimal sogar den Europapokal der Landesmeister (1979 und 1980). Doch die großen Triumphe liegen mittlerweile schon mindestens 35 Jahre zurück. Die Zeit hat den großen TVG auf Normalmaß gestutzt.

An diesem Abend gegen Hüttenberg sind etliche Sitzschalen in der Untermainhalle in Elsenfeld leer geblieben. Bis zu 2500 Fans finden hier eigentlich Platz, aber gekommen sind nicht mehr als 1100 –  „weniger als erhofft“, wie Spatz sagt. Der TVG spielt vor halbleeren Rängen und hat keine Chance. Das Spiel beginnt mit einem Schrittfehler von Maximilian Horner, dann verwirft Maxim Schalles einen Siebenmeter, Moritz Klenk scheitert am Pfosten. Missgeschick um Missgeschick. Nach zehn Minuten steht es 1:6 – eine Hypothek, von der sich die Mannschaft nicht mehr erholen wird.

Nach dem Spiel strömen zig Kinder auf den Platz, umzingeln die Spieler und bitten sie um Autogramme und Fotos. Rückraumspieler Mario Stark kritzelt seine Unterschrift auf mehrere T-Shirts, auf einen Ball und in ein Buch, das ihm ein Junge entgegenstreckt. Auch Männer und Frauen suchen das Gespräch. Die Wut auf die Schiedsrichter ist dem Dialog gewichen. Die Szenen zeigen, wie sehr der Sport die Menschen am Untermain bewegt. Die Region war derart lange eine Handball-Hochburg, dass Horners Schrittfehler, Schalles’ Siebenmeter und Klenks Pfostenwurf auch heute noch niemanden kaltlässt.

Doch die Bundesliga, so realistisch muss man sein, kann allenfalls als mittelfristiges Ziel gelten. „Wenn wir das angehen wollen, müssen wir in allen Bereichen noch ein bisschen arbeiten“, gesteht Spatz. Letztes Jahr wurde der TVG Elfter – die mit Abstand beste Platzierung der vergangenen Jahre. Allerdings waren es nur zwei Punkte, die die Mannschaft vom ASV Hamm trennten, der als Vorletzter abstieg. Für die laufende Saison hat sich Großwallstadt vorgenommen, nicht schon wieder bis zum Schluss um seine Existenz als Zweitligist bangen zu müssen. Von höheren Zielen spricht niemand. „Wir wollen so schnell wie möglich 30 Punkte holen“, sagt Stark, „alles, was dann noch dazukommt, ist Bonus.“

Um irgendwann wieder andere Ziele ausrufen zu können, braucht es insbesondere größere finanzielle Spielräume und mehr Beständigkeit. André Lohrbach ist bereits der elfte Coach seit dem Neuanfang, den Großwallstadt nach der Insolvenz 2015 einleitete. Manch ein Trainerwechsel entzog sich zwar auch der Verantwortung des TVG – etwa als Igor Vori 2023 aus persönlichen Gründen in seine Heimat zurückkehrte –, die eine oder andere Fehlentscheidung muss sich der Klub allerdings ankreiden lassen.

Spatz weiß das. Aber jetzt will er nach vorn schauen. Das Ziel Bundesliga ist zwar derart weit entfernt, dass es höchstens schemenhaft am Horizont zu erkennen ist. Aber Michael Spatz und der TV Großwallstadt laufen los. Schritt für Schritt.