Hamburger Schauspielhaus: Zeitzeugen berichten vom Feuersturm 1943

Man kann versuchen, den Körper abzuhärten, um für den Ernstfall besser gewappnet zu sein. Kann versuchen, sich das Schlimmste vorzustellen und sein Gemüt darauf vorzubereiten. Kann sich schlagen, anschreien und im Voraus quälen, um den wirklichen Schrecken dann besser ertragen zu können. Man kann seine Muskeln trainieren und eine Schutzhaltung einüben, kann den Blick abstumpfen lassen und sich auf Podeste stellen, um weniger schwach zu wirken.

Aber vor den eigenen Erinnerungen kann man sich nicht schützen. Sie wirken auf gefährdende Weise fort, sie haben unser Herz in der Hand. Erinnerungen an Dinge, die geschehen sind, die man gesehen, gefühlt und erlitten hat, gehören zu den größten Gewichten, die Menschen mit sich herumtragen.

Hochbetagte im Scheinwerferlicht

Auf der Bühne des Deutschen Schauspielhauses sitzen Zeugen einer Vergangenheit, die nicht vergeht. Sie haben als Kind den Hamburger Feuersturm miterlebt, jenes unvorstellbare Inferno in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943, als die Royal Air Force mit Tausenden Bomben die dicht besiedelten Arbeiterquartiere in Brand setzte und Zehntausende Menschen in den Flammen umkamen.

Sie haben gesehen, wie ihre Nachbaren als lodernde Fackeln durch die Glutnacht wankten, wie verkohlte Leichen sich vor den Eingängen der Bunker krümmten, wie Kinder an den Hälsen ihrer brennenden Mütter hingen. Das alles haben sie vor mehr als achtzig Jahren gesehen – und jetzt berichten sie davon.

Hochbetagte Alte sind das, die man sonst in Krankenhäusern oder Pflegeheimen sieht, jetzt sitzen sie vorn an der Rampe im Scheinwerferlicht und sprechen ihre Erinnerungen konzentriert aus. Verleihen den Bildern, die sie ihr Leben lang verfolgt haben, intensiv Ausdruck. Für einen Moment stehen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit, hängt ein Premierenpublikum ganz an ihren Lippen. Gleich, wenn sie ihre Erzählung beendet haben, werden sie sich wieder in jene Senioren verwandeln, die man aus Mitleid kurz anlächelt oder sanft an der Schulter berührt, im Wissen darum, dass sie einem nicht gefährlich werden können.

Was der Krieg nach innen heißt

Aber jetzt, in diesem Augenblick, wirken sie wie weise Seher, die uns auf ein gefährliches Menetekel hinweisen. Die Schrift an der Wand – hier sind das die Bilder im Kopf: das Bild von der Geburtstagstorte eines Nachbarsjungen etwa, die mit Splittern der zerborstenen Fensterscheibe gespickt auf dem Boden liegt. Das Bild von dem geburtstagsvorfreudigen Nachbarsjungen, dessen verkohlte Leiche gegen die Haustür lehnt. Den hilflos beruhigenden Satz einer Mutter beim Anblick der Brandleichen: „Das sind alles nur Puppen“ oder die Beschreibung jenes beißenden Geruchs im Bunker, eine „Mischung aus Beton und Angstschweiß“.

Wie wird man damit fertig? Zu wissen, dass die Treppe, die gleich vor dem Schauspielhaus runter in den U-Bahn-Schacht führt, dass diese Treppe zu einem Bunker führte, in den die Hamburger Juden nicht zugelassen wurden, auch nicht die jüdischen Kinder. Zu wissen, dass sich dort, wo jetzt Jungs Döner essen und Reels anschauen, damals vor dem Bunkereingang lange Schlangen bildeten, in denen die Menschen voller Angst weinten und beteten.

Kriegstüchtig kann ein Land nur nach außen werden. Nach innen wird es bei aller Abhärtung, aller Schutzübung dem Krieg gegenüber immer untüchtig bleiben. Gegen die Erfahrungen von Vergeltung und Hinrichtung lässt sich der Geist nicht ertüchtigen. Nach innen heißt Krieg für immer: zittern und schreien, Schrecken und Angst.

In einer Atmosphäre aus Gewalt und Willkür

Die Szene mit den Feuersturm-Zeugen ist die eindrucksvollste eines Hamburger Theaterabends, der sich, basierend auf Ágota Kristófs kurzem, auf den Schmerzkern reduzierten Prosatext „Das große Heft“ an den Krieg als Inbegriff des inneren Erlebens heranwagt. Der Roman aus dem Jahr 1986 erzählt von zwei namenlosen, etwa zehnjährigen Zwillingsbrüdern (hier kongenial gespielt von Kristof Van Boven und Nils Kahnwald) in einem nicht näher benannten, kriegsgezeichneten Land, die zu ihrer Großmutter aufs Land geschickt und dort gequält werden.

Sie werden gequält, aber sie quälen sich auch selbst. Härten sich ab, um stärker zu werden. Die zärtlichen Worte ihrer Mutter verdrängen sie, weil die Erinnerung daran zu sehr schmerzt. Erinnerung – das schwerste Gewicht auch schon für sie, die Zehnjährigen. Präzise, das heißt hier vor allem ohne Gefühle schreiben. Das unsichere Wort „Liebe“ zu vermeiden. Sie zeichnen alles auf, was geschieht – von jenem „allen“ aber nur das, was sich beweisen lässt.

Die 1935 in Ungarn geborene Kristof, die dort in ländlicher Umgebung den Zweiten Weltkrieg überlebte und in einer Atmosphäre aus Gewalt und Willkür aufwuchs, die 1956 zusammen mit ihrem Mann und ihrem Baby aus der ungarischen Heimat in die Schweiz floh, dort in einer Uhrenfabrik arbeitete, Französisch lernte und bis zu ihrem Tod im Jahr 2011 wohnte, diese von den Gewalttätigkeiten eines zerrütteten Jahrhunderts versehrte Autorin hat einmal erklärt, dass der Vorteil einer fremden Schreibsprache für sie darin bestünde, dass sie hart und ohne Ausschmückung schreiben könne: „Ich benutze Französisch – im Gegensatz zu Ungarisch –, um Distanz zwischen meinen Ängsten und meinem Schreiben zu schaffen.“

Viele sind zu Tränen gerührt

Wie viel Distanz können wir zu unseren Erinnerungen bewahren? Ab wann wird Nähe zum Erlebten zur Qual? Bühnenbildnerin Katrin Brack findet darauf mit einem dreh- und wendbaren Stahlkreis aus Lautsprechern, Scheinwerfern und Ventilatoren eine symbolische Antwort: Die Erinnerung ist ein zirkuläres Wesen, das uns mit unterschiedlicher Technik aus unterschiedlicher Richtung unerwartet anfällt.

„Ich habe den Krieg als Kind gesehen. Es ist ein Bild, das nie verschwindet“, hat Kristof einmal in einem Interview gesagt und später geschrieben: „Man wirft mir vor, zu traurige Bücher zu schreiben, aber es gibt Leben, die noch viel trauriger sind.“

Es ist, als ob die erschütternden und nicht wenige im Publikum zu Tränen rührenden Erzählungen der Hamburger Feuersturm-Zeugen diesen Satz unterstreichen. Regisseurin Karin Henkel setzt der starken literarischen Stimme über den Krieg die schwächer werdenden Stimmen der Kriegserinnerung entgegen. Und doch: Kristofs Satz über einen toten Soldaten, dem „wegen der Raben die Augen fehlen“, wird einem noch eine Weile nachgehen. Aber dass da auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses einmal ein Zeuge der deutschen Untergangszeit saß und von dem verbrannten Nachbarsjungen erzählte, das wird man nie wieder vergessen.