Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und den früheren Verteidigungsminster Yoav Gallant erlassen. Eine Vorverfahrenskammer folgte damit nach langer Prüfung einem Antrag, den Chefermittler Karim Khan schon im Mai gestellt hatte.
Es gebe hinreichende Gründe für die Annahme, dass beide Männer die strafrechtliche Veranwortung für das Kriegsverbrechen des Aushungerns als Mittel der Kriegsführung und für Verbrechen gegen die Menschlichkeit trügen, nämlich Mord, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen, heißt es in einer Erklärung aus Den Haag.
Einen weiteren Haftbefehl stellte der Strafgerichtshof gegen Mohammed Deif aus, den früheren Militärchef der Hamas. Israel geht allerdings davon aus, dass Deif im Sommer bei einem Luftschlag getötet wurde.
Was genau ist passiert?
Chefermittler Khan wirft Netanjahu und Gallant Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zuge eines „breiten und systematischen Angriffes auf die palästinensische Zivilbevölkerung“ vor, die im Rahmen einer staatlichen Politik begangen würden. Im Kern geht es dabei nicht um einzelne Angriffe der israelischen Armee auf zivile Einrichtungen, sondern um die Einschränkung und Behinderung der humanitären Versorgung der Menschen im Gazastreifen vor allem unmittelbar nach Kriegsbeginn, als Israel das Küstengebiet komplett abriegelte und die Versorgung mit Wasser, Strom und Lebensmitteln gänzlich einschränkte.
Israels Regierung habe das Aushungern und andere Akte der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung im Rahmen eines breiten Plans als Methode eingesetzt, um die Hamas zu eliminieren, die israelischen Geiseln zu befreien und die palästinensische Bevölkerung kollektiv zu bestrafen. Inwieweit eine Rolle spielte, das die totale Abriegelung bald wieder aufgehoben wurde und Israel wieder humanitäre Güter in den Gazastreifen ließ, hatte Khan nicht erläutert.
Ursprünglich hatte Khan auch Haftbefehle gegen die Hamas-Führer Yahya Sinwar, Ismail Haniyeh und Muhammad Deif beantragt, die jedoch in den vergangenen Monaten von der israelischen Armee getötet wurden. Die Vorwürfe gegen die Hamas-Anführer konzentrierten sich auf den 7. Oktober und die Verschleppung von rund 250 Israelis in den Gazastreifen, von denen etwa hundert bis heute nicht freigekommen sind. Chefermittler Khan sieht in dem Überfall auf den Süden Israels eine Reihe von Tatbeständen des Völkerstrafrechts erfüllt, vor allem Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Mord, Vernichtung, Vergewaltigung und sexuelle Gewalt, Folter und unmenschliche Behandlung sowie Kriegsverbrechen durch Geiselnahme und grausame Behandlung. Die Führungsriege der Hamas habe diese Verbrechen geplant und andere dazu angestiftet. Der Chefermittler bezog sich also allein auf den Angriff gegen Israel und die Geiselnahmen, nicht jedoch auf die Kriegsführung der Hamas, obwohl es zahlreiche Hinweise darauf gibt, dass sich die Terrororganisation und ihre Kämpfer planmäßig hinter Zivilisten und zivilen Einrichtungen verbergen und damit die Bevölkerung von Gaza als „Schutzschild“ verwenden, was ebenfalls ein Kriegsverbrechen darstellt.
Warum konzentriert sich der Chefankläger auf den Vorwurf der Aushungerung?
Israel werden seit Beginn des Krieges von vielen Seiten Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht vorgeworfen. Fachleute mahnen hier jedoch zur Zurückhaltung, da die juristische Bewertung dieser Angriffe oft äußerst schwierig ist und von einer Vielzahl von Faktoren abhängt. Denn wenn die Hamas zivile Einrichtungen militärisch nutzt, macht sie die Gebäude zu legitimen Zielen; bei Angriffen auf solche Ziele darf Israel auch zivile Opfer in Kauf nehmen, wenn das nicht außer Verhältnis steht zum militärischen Nutzen. Indem der Chefankläger den Vorwurf des Aushungerns und der methodischen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt stellt, geht er diesen Detailfragen aus dem Weg. „So kann er die Ermittlungen direkt gegen die Regierungsmitglieder richten, die für diese strategischen Entscheidungen verantwortlich sind“, sagt etwa der Nürnberger Völkerstrafrechtler Christoph Safferling.
Hätte der Gerichtshof bei den Ermittlungen auch anders vorgehen können?
Prinzipiell gelten am Internationalen Strafgerichtshof die gleichen Grundsätze wie im deutschen Recht. Haftbefehl und Untersuchungshaft sind keine Vorverurteilung – sie dienen primär dazu, das Verfahren zu sichern und zu verhindern, dass sich die Beschuldigten dem Gericht entziehen oder weitere Straftaten begehen können. Bei besonders schwerwiegenden Vorwürfen ist es auch in Deutschland die Regel, einen Haftbefehl zu erlassen. Allerdings stellt sich bei Regierungsmitgliedern eines Staates, der sich in einem Krieg befindet, die Frage, ob eine Verhaftung wirklich erforderlich und politisch realistisch ist. Möglich wäre etwa auch, dass Khan die Beschuldigten zunächst vorlädt – oder eine Beschuldigtenvernehmung in Israel versucht. Damit hätte er ebenfalls das politische Signal gesendet, dass gegen Netanjahu und Gallant als Beschuldigte ermittelt wird.
Nachdem Khan im Mai bekannt gegeben hatte, dass er Haftbefehle beantragt hat, verwies vor allem die amerikanische Regierung darauf, dass der Chefermittler bereits eine Reise nach Israel für weitere Ermittlungen geplant gehabt hätte. Auf Nachfrage heißt es dazu von Khans Büro, dass der Chefermittler seit drei Jahren versuche, in einen Dialog mit der israelischen Seite zu treten – doch trotz erheblicher Bemühungen habe er keine Informationen erhalten, dass Israel auf nationaler Ebene wegen der vorgeworfenen Delikte aktiv werde.
Was spricht gegen eine Zuständigkeit des Strafgerichtshofs?
Grundsätzlich ist der IStGH nur für Staaten zuständig, die dem Römischen Statut beigetreten sind. Israel hat (wie auch die USA) das Statut nie ratifiziert, die Palästinensische Autonomiebehörde schon. Obwohl Palästina völkerrechtlich kein Staat ist, entschied der Gerichtshof 2021, es für die Zwecke des Römischen Statuts wie einen Staat zu behandeln. Daher kann Khan nun zu allen Taten, die auf palästinensischem Boden (also im Gazastreifen) oder von Palästinensern (also die Hamas-Massaker) verübt wurden, ermitteln.
In den zahlreichen Amicus-Curiae-Briefen, die die Vorverfahrenskammer in den vergangenen Monaten erreichten, wurde wiederholt argumentiert, dass die Palästinenser gar keine Jurisdiktion über Israelis an den Strafgerichthof hätten übertragen können. Denn der weiterhin gültige Oslo-II-Vertrag von 1995 zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO schließe aus, dass Palästinenser Rechtsprechungsgewalt über israelische Bürger bekämen. Da sie die Jurisdiktion also gar nicht hatten, hätte sie auch nicht nach Den Haag übertragen werden können, so das Argument.
Eine andere Frage ist jedoch die der Komplementarität. Grundsätzlich wird der IStGH nur tätig, wenn die nationalen Strafverfolgungsbehörden nicht fähig oder willens sind, die Taten selbst zu verfolgen. Deshalb wurde bisher auch praktisch nie gegen funktionierende Rechtsstaaten ermittelt. Khan wirft der israelischen Justiz implizit vor, dass sie die Augen vor den Rechtsverstößen in Gaza verschließt. Wenn die israelische Justiz glaubhafte, unvoreingenommene Ermittlungen wegen der Vorwürfe aufgenommen hätte, dann wäre das Verfahren des Chefanklägers eigentlich nicht mehr zulässig.
Auf unterer Ebene führt die israelische Militärjustiz zahlreiche Ermittlungen, um mögliche Verstöße einzelner Kommandeure zu untersuchen. Die decken jedoch nur einen Bruchteil der Vorwürfe ab und haben bisher nur wenige konkrete Ergebnisse geliefert – wie etwa die Festnahmen mehrerer Verdächtiger, die im Internierungslager Sde Teiman palästinensische Gefangene misshandelt haben sollen. In Fachkreisen wird bezweifelt, dass die Militärjustiz in größerer Zahl eigene Militärangehörige verurteilen würde. In internen Gesprächen hatte die Armeeführung offenbar immer wieder zugegeben, dass man die Moral der kämpfenden Truppe gefährde, wenn die Justiz streng gegen diejenigen Soldaten vorgehe, die an der Front ihr Leben riskierten.
Zudem beschäftigt sich der Oberste Gerichtshof mit einer Petition zu der Frage, ob die Regierung mehr Hilfe für die Zivilbevölkerung in den Gazastreifen lassen muss.
Wie verhält sich das Ermittlungsverfahren zu der Genozid-Klage vor dem Internationalen Gerichtshof?
Der Gazakrieg beschäftigt derzeit zwei juristische Institutionen in Den Haag, die grundsätzlich getrennt voneinander sind. Südafrika hat Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) verklagt. Es wirft Israel einen Genozid an den Palästinensern vor. Vor dem IGH sind jedoch nur die Staaten selbst Partei. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), der durch das Römische Statut von 1998 geschaffen wurde, ahndet Völkerstrafrechtsverbrechen einzelner Personen. Der Chefermittler hat hier die Funktion des Staatsanwaltes, der in seinem Zuständigkeitsbereich Ermittlungen beginnt, wenn er Hinweise auf Taten erhält, die gegen das Völkerstrafrecht verstoßen. Hat er genügend Beweise gesammelt, kann er Anklage gegen einzelne Personen erheben.
Gewisse Rückschlüsse lassen sich aber von Khans Vorgehen zum Genozid-Verfahren vor dem IGH ziehen. Würde der Chefankläger wie Südafrika in seiner Klage davon ausgehen, dass Israel einen Genozid begehe, hätte er gegen Netanjahu und Gallant auch wegen des Verbrechens „Völkermord“ ermitteln können. Dazu müsste Israels Führung die spezifische Absicht nachweisbar sein, dass sie die Palästinenser als Volk vom Erdboden beseitigen und vernichten will. Das wäre ein wesentlich schwerwiegenderer Vorwurf als die Delikte, die Khan Netanjahu und Gallant tatsächlich vorwirft. Dort geht es darum, dass Israel Hunger als Waffe einsetzt, um seine Kriegsziele zu erreichen – also die Befreiung der Geiseln und ein Ende der Hamas –, nicht aber, um die Palästinenser also solche zu vernichten.
Wie sind die Reaktionen auf die Haftbefehle?
Das Büro des israelischen Ministerpräsidenten reagierte in einer ersten Stellungnahme abwehrend auf den Haftbefehl und bezeichnete diesen als „antisemitisch“. Es seien absurde und falsche Schritte, das Land werde dem Druck nicht nachgeben.
Israels Präsident Izchak Herzog schrieb auf X: „Dies ist ein dunkler Tag für die Justiz. Ein dunkler Tag für die Menschheit.“ Er sprach von einer skandalösen Entscheidung, die der Gerichtshof in böser Absicht getroffen habe. Der Außenminister des Landes, Gideon Saar, schrieb ebenfalls auf X, der Gerichtshof habe mit seiner Entscheidung jegliche Legitimität verloren. Es sei ein „dunkler Moment für den Internationalen Strafgerichtshof“. Er habe absurde Befehle ohne Autorität erteilt.
Die Hamas feierte die Haftbefehle als einen historischen Schritt. Die Entscheidung sei ein „wichtiger historischer Präzedenzfall und eine Korrektur eines langen Wegs historischer Ungerechtigkeit gegen unser Volk“, teilte die Hamas mit. Die Vereinigten Staaten hätten monatelang versucht, den Schritt gegen die beiden „Terroristen“ Netanjahu und Galant zu verhindern und das Gericht und dessen Richter „terrorisiert“. Zum Haftbefehl gegen Mohammed Deif äußerte sich die Hamas nicht. Die Hamas rief das Gericht dazu auf, die Ermittlungen gegen „alle kriminellen Anführer der Besatzung“ auszuweiten auf Minister und Offiziere, die „Blut unseres palästinensischen Volks vergossen haben“.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland übte scharfe Kritik. „Dieser Haftbefehl gegen einen Ministerpräsidenten eines demokratischen Staates und seinen früheren Verteidigungsminister ist eine Absurdität“, sagte Zentralratspräsident Josef Schuster in Berlin. „Israel verteidigt sich nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 gegen islamistischen Terror in Gaza und im Libanon. Allein der semantische Dualismus, Israel auf eine Stufe mit der Hamas zu stellen, grenzt an Unverfrorenheit und vollkommen verfehlten Amtsverständnis eines internationalen Strafgerichtshofs in Folge einer Anti-Israel-Propaganda. Die Bundesregierung darf diese Täter-Opfer-Umkehr nicht akzeptieren“, sagte Schuster.
Der für Außenpolitik zuständige stellvertretende Vorsitzende der Unions-Fraktion, Johann Wadephul (CDU) sagte der F.A.Z., der Erlass der Strafbefehle sei problematisch. „Es bestehen Zweifel an der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs in der Sache. Die Bundesregierung ist aufgefordert, sich klar zu positionieren“, sagte Wadephul. Er verband seine Reaktion mit Kritk an Außenministerin Baerbock, die es versäumt habe, „den besten deutschen Kandidaten in das Rennen für einen Platz am IStGH geschickt“ zu haben. „Dass Deutschland in diesem wichtigen Gremium nicht vertreten ist und damit Fürsprecher für das Recht auf Selbstverteidigung Israels sein konnte, ist ein schweres Versäumnis der Außenministerin.“ Für ihn sei es unvorstellbar, dass „ein demokratisch gewählter Premierminister des Staates Israels auf deutschem Boden festgenommen wird.“ Die Haftbefehle zeigten das „vollkommen ausbleibende Fingerspitzengefühl, der Spitze des Internationalen Strafgerichtshofs“.