Guillermo del Toros „Frankenstein“: Der Schönling ist das Biest

Hat Netflix Guillermo del Toro in den Stoff gequatscht? Oder warum eskaliert sein „Frankenstein“ schon in den ersten Minuten so heftig, als wollte man die Binger:innen mit dem Pilot einer neuen Serie gleich wegföhnen und anfixen?

Da steckt ein Schiff im ewigen Eis. Die Crew um Captain Anderson (Lars Mikkelsen) ist verzweifelt. Alle wollen weg, erst recht, als nach einer Explosion dieser Victor Frankenstein (Oscar Isaac) und vor allem sein Geschöpf, das ihn bis ans Ende der Welt verfolgt hat, auftauchen.

Das Biest im Kapuzenanzug prügelt sich auf der Suche nach seinem Papa durch die bis an die Zähne bewaffneten Matrosen. Es metzelt sie ab, bricht sie durch, buchstäblich, und schmeißt sie wie Papierflieger gegen den Schiffsbug, das einem die Ohren dröhnen und die Augen brennen.

Del Toros Adaption von Mary Shelleys Gothicliteratur-Klassiker von 1818, die beim Filmfest in Venedig Premiere feierte, beginnt als das, was sie insgesamt ist: ein bildgewaltig-blutiges Jahrmarktspektakel.

Del Toro liebt Märchen und Monster

Dass sich der mexikanische Regisseur und Produzent des Stoffes annimmt, war keine Frage der Zeit, sondern vielmehr vorherbestimmt, Schicksal. Keiner liebt und zelebriert Monster, Märchen und Fantasy wie er. Keiner hat sich mit seinen schauerromantischen, düster-poetischen Ausstattungsfilmen so sehr sein eigenes Terrain abgesteckt wie del Toro.

Der Film

„Frankenstein“. Regie: Guillermo del Toro. Mit Oscar Isaac, Jacob Elordi u. a. USA 2025, 150 Min.

In „Pan’s Labyrinth“, seinem besten Film, findet ein Mädchen auf der Flucht vor dem Zweiten Weltkrieg und dem Terror des Franco-Regimes eine düstere Traumwelt voller bizarrer Wesen: ein Film, der vor Einbildungskraft explodiert und in der Horror-Fantasywelt den Horror der Wirklichkeit reflektiert.

Del Toro hat einen sprücheklopfenden, teufelsähnlichen Dämon mehrfach auf Weltrettungsmission geschickt („Hellboy“). Er hat von der erst unwahrscheinlichen und schließlich folgerichtigen Liebe zwischen einer stummen Putzfrau und einem Amphibienwesen in einem Geheimlabor auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges erzählt („Shape of Water“).

Zuletzt hat er den berühmten Holzjungen mit der verräterischen Nase zum animationsfilmischen Leben erweckt („Guillermo del Toro’s Pinocchio“). Nun, im Comebackjahr der Schauerklassiker, mit den Draculas von Autorenfilmer Radu Jude und von Luc Besson sowie Robert Eggers „Nosferatu“ erweckt del Toro also Frankensteins Monster zum Leben.

Von dem Schiff aus, in dem Captain Anderson dem Verfolgten zu Filmbeginn Unterschlupf gewährt, während alle bibbernd die Rückkehr des Monsters fürchten, rekapituliert Victor Frankenstein seine (altbekannte) Geschichte, seine Mad-Scientist-Werdung sozusagen.

Weil die geliebte Mama (Mia Goth) bei der Geburt seines jüngeren Bruders William (Felix Kammerer) verstirbt, ist für Victor früh klar, dass er dem Tod und Gott ein Schnippchen schlagen möchte. Im Studium doktert er sich erste Objekte aus Leichenteilen zusammen und wird von den Professoren und den Kommilitonen verlacht.

Mit Harlander (Christoph Waltz), Onkel von Elizabeth (ebenfalls Goth), seiner Schwägerin in spe, kommt ein Förderer auf den Plan, mit dem Victor seinen Traum realisieren kann. Beim Locationscouting findet das Duo infernale einen abgelegenen Turm, der dem von Sauron aus „Herr der Ringe“ in nichts nachsteht.

Maximal eindeutige Bildsprache macht klar: Es geht in dem Film auch darum, sich zu reflektieren, so als Mensch



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Mit der nötigen Inneneinrichtung aus Elektroden, Laborkrams und mehr und den auf dem Schlachtfeld zusammengesammelten Leichenteilen kann das Monsterexperiment, ja: kann der kreative Orgasmus beginnen. Del Toro verpackt seine Version der Geschichte in visuell beeindruckende, dabei aber so penetrant auf Schauwerte hin überdekorierte Bilder, dass man sich schnell an ihnen satt sieht.

Die Kamera fliegt durch den Schreckensturm mit all seinen morbiden Details. So begleitet sie das kreativ-kreatürliche Treiben, bis Victor schließlich im heftigsten Unwetter aufs Dach klettert, um den Leiter für den nötigen blitzinduzierten Strom im Schaffensvollrausch selbst zu installieren.

Yorgos Lanthimos hatte mit „Poor Things“ erst kürzlich gezeigt, wie sich Motive aus dem Frankenstein-Mythos für Gegenwärtiges fruchtbar machen lassen

Und dann ist es da, das Monster, das sicher nicht ohne Hintergedanken von Jacob Elordi gespielt wird, dem hünenhaften Schönling aus der Teenie-Dramaserie „Euphoria“ oder der amoralischen Klassensatire „Saltburn“. Hier krakeelt der Schwarm als unsterblicher, zusammengeschusterter, höllisch kräftiger Gollum-Verschnitt in Basketballer-Übergröße durch die Szenerie.

Viel Bumm, viel Krach und wenig Überraschung

Elordi als sensibles Monster ist das Ereignis in diesem sonst trotz allem Bumm und Krach wenig überraschenden Film. Er treibt seinen Papa nahe an die Depression, als er angekettet im Keller nicht seinen intellektuellen Erwartungen entspricht. Mit unfreiwilliger Komik kippt der Film hier kurzzeitig in eine monströse Familien-Dramedy über einen von seiner Carework überforderten Vater.

Ein erstes Menscheln erlernt der Monsterknabe mit Elizabeth, die ihn ihm eben etwas anderes sieht. Wie schon in Mary Shelleys Vorlage, so lässt auch del Toro im zweiten Teil seines bisher teuersten Films das Geschöpf selbst seine Geschichte erzählen und erweitert damit die Perspektive.

Wer ist hier das eigentliche Monster? Dieser alten Frage widmet sich die neue „Frankenstein“-Verfilmung spätestens dann, wenn sie dem Geschöpf bei seiner intellektuellen Adoleszenz als heimlicher Gast auf einem abgelegenen Hof zuschaut. Und wenn es schmerzlich lernen muss, dass seine Andersartigkeit zu heftiger Exklusion führt, was brutale Exzesse zur Folge hat.

Peinliche Wölfe können Frankenstein nicht töten

Die völlig künstlich aussehenden CGI-Wölfe, die das Geschöpf mit einem nicht nachvollziehbaren Gore-Faktor zerreißt, sind die Talsohle des Films. Del Toros „Frankenstein“ wirkt, wie das Ungetüm im Film, selbst wie ein seltsam zusammengezimmertes Unikum. Einerseits ist die Liebe des Regisseurs zu dem Stoff in jeder Filmsekunde zu spüren, in jedem kunstvoll (über)gestalteten, schrecklich schönen Bild mit den vielen, vielen Details.

Pathetische Gesten verdeutlichen: Dr. Frankenstein hat etwas zu sagen. Hier hält er ein Pillendöschen ins Auditorium



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In vielerlei Hinsicht erfüllt der Film damit so ziemlich genau das, was man von dem Mexikaner erwartet hat. Doch zugleich erstickt sein „Frankenstein“ unter den auf Märchen gebürsteten Superlativen zwischen melodramatischem Overkill und rüder Brutalität.

Dass del Toro seinen Film komplett als klassizistische Adaption angelegt hat, wundert ebenfalls kaum, ist aber dennoch ein Statement. Klar hat das Kino als Ort für Eskapismus eine Daseinsberechtigung.

Aber bei den Steilvorlagen unserer Gegenwart – Stichwort KI als Creation-Tool – ist das schon bemerkenswert. Yorgos Lanthimos hat zuletzt mit „Poor Things“ gezeigt, wie sich Motive aus dem Frankenstein-Mythos für Gegenwärtiges fruchtbar machen lassen.

In retrofuturistischem Setting erzählte er eine feministische Frankenstein-Variante und machte sein von Emma Stone gespieltes Monster zum Spiegel für unseren Umgang mit Sprache, für Machthierarchien, Rollenbilder und sexuelle Identitäten. Demgegenüber wirkt del Toros „Frankenstein“ eher wie eine Michael-Bay-Version des Mythos: audiovisuell bombastisch, aber mit eben nicht viel mehr dahinter.

Shelleys Vorlage dagegen wird immer wieder den Weg ins Kino finden. Im kommenden Jahr schon bringt Maggie Gyllenhaal mit „The Bride! – Es lebe die Braut“ eine moderne Interpretation von „Frankensteins Braut“, James Whales Klassiker aus dem Jahr 1935, in die Kinos. Frankenstein ist eben unsterblich.