Grünen-Chefin Brantner: „Die US-Strategie ist auch eine Kampfansage an Merz“

Frau Abgeordnete, Europa und die Ukraine sind weitgehend Zuschauer, wenn sich Donald Trump und Wladimir Putin über das Schicksal der Ukraine verständigen. Wie konnte es so weit kommen, dass Europa so wenig zu sagen hat?

Es stimmt, wir Europäer müssen darum kämpfen, einen Platz am Verhandlungstisch zu haben – ansonsten stehen die Ukraine und wir auf der Speisekarte, während die Russen jede Nacht ihre schweren Angriffe fortsetzen. Wir haben uns so lange darauf verlassen, dass uns die Amerikaner helfen, wir gemeinsam Frieden und Freiheit in Europa verteidigen. Zu viele Europäer, gerade auch Deutsche, haben sich trotz aller Anzeichen der Hoffnung hingegeben, dass Trump seine autokratischen Pläne nicht in die Tat umsetzt. Das zweite ist, dass wir Europäer nicht geeint und stark genug sind. Unsere Unterstützung der Ukraine kam häufig zu spät und war immer etwas zu wenig. Und schließlich haben zu viele Putin wieder und wieder nicht ernst genug genommen.

Und wie sähe ein gerechter Friede aus?

Das Wichtigste ist, dass nichts über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg beschlossen wird. Echter Frieden wahrt das Selbstbestimmungsrecht, die territoriale Integrität und die Sicherheit der Ukrainer. Dahingegen will Trumps 28-Punkte-Plan die Ukraine unterwerfen und ist gefährlich für uns Europäer insgesamt. Ein Veto-Recht bei der NATO hatte nicht einmal die Sowjetunion in den härtesten Zeiten des Kalten Krieges. Sonst wäre die Bundesrepublik Deutschland niemals Mitglied der Allianz geworden. Dass Präsident Trump bereit ist, Putin dieses Veto zu geben, ist eine Aufkündigung des Solidaritätsgedankens, der die NATO definiert. Daran sieht man, dass es bei den Verhandlungen jetzt zentral um europäische Sicherheit geht, nicht allein um die Ukraine.

Hätte eine stärkere Unterstützung der Ukraine durch die vorige Ampel-Regierung, der Sie ja selbst angehört haben, die Ausgangslage verbessern können?

Ja, deshalb haben wir Grüne auch dafür gekämpft – bekanntermaßen gegen den Widerstand der SPD. Und deshalb haben wir später auch ermöglicht, dass die Lockerung der Schuldenbremse dafür genutzt werden kann, der Ukraine mehr zu helfen. Es erstaunt und ärgert mich, dass Friedrich Merz davon keinen ausreichenden Gebrauch macht. Das Überleben der Ukraine ist auch eine finanzielle Frage, dafür brauchen wir die eingefrorenen russischen Vermögen. Das muss im Dezember geschehen, alles andere wäre eine Kapitulation der Europäer. Stellen Sie sich doch mal vor, die Europäer versagen und stattdessen nimmt Trump das Geld. Als Regierungschef des größten Mitgliedstaats muss Friedrich Merz jetzt Führungsverantwortung zeigen.

Seit 2024 Vorsitzende der Grünen: Franziska Brantner
Seit 2024 Vorsitzende der Grünen: Franziska BrantnerPatrick Junker

Für eine solche Absicherung bräuchte es die Zustimmung des Bundestags, eventuell noch in einer Sitzung vor Weihnachten, wären die Grünen denn da dabei?

Ja, wir Grünen haben einen entsprechenden Antrag schon eingebracht. Ohne eine solche Absicherung Belgiens, wo die eingefrorenen russischen Gelder liegen, wird es nicht gehen. Da stecken finanzielle Risiken drin, aber die sollten wir gemeinsam tragen. Denn die Risiken, wenn Putin diesen Krieg gewinnt und mit seinen imperialen Machtbestrebungen durchkommt, sind um ein Vielfaches höher.

Muss man nicht einräumen, dass Bundeskanzler Merz sich tatsächlich dafür einsetzt, dass er europäische Führung übernimmt, dass er gemeinsam mit Paris und London die Europäer im Spiel hält?

Der gute Auftakt als Außenkanzlers war leider ein Strohfeuer. Auch international hat Friedrich Merz Erwartungen geweckt, die er nicht hält und damit Deutschlands Rolle in der Welt geschwächt. Merz irritiert auch mit nationalen Alleingängen, beispielsweise wenn er die deutsche Armee zur stärksten konventionellen Armee Europas machen will. Ist das Ziel nicht die stärkste europäische Verteidigung? Gemeinsamkeit ist das Stichwort und da sehe ich weder im Kanzleramt noch im Verteidigungsministerium den nötigen Schwung. Trump macht jetzt ernst – da müssen wir doch auch ernst machen. Doch die Bundesregierung ist immer noch im Snooze-Modus. Die Ansage der US-Sicherheitsstrategie ist zu Ende gedacht auch eine Kampfansage an Friedrich Merz: Wir wollen Dich stürzen, wir wollen einen Regime Change mit der AfD.

Der Bundeskanzler war in dieser Woche in Israel. War diese Reise zu Benjamin Netanjahu ein Erfolg für die deutsche Nahostpolitik?

Ein Erfolg wäre, wenn sich für beide, Israelis und Palästinenser die Sicherheitslage verbessern würde und es eine Perspektive auf einen echten politischen Prozess gäbe. Für uns gilt der Dreiklang: Das Existenzrecht Israels ist unverhandelbar. Das Selbststimmungsrecht der Palästinenser ist unverhandelbar. Und die Menschenwürde und das Völkerrecht sind unverhandelbar. Vor diesem Hintergrund bezweifle ich, ob man den Besuch des Kanzlers als Erfolg werten kann. Netanjahu hat Merz bei der Pressekonferenz auf eine Weise vorgeführt, wie man das sonst nur noch von Trump kennt. Deutschland und Europa stehen noch immer an der Seitenlinie. Das Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung darf nicht zum Lippenbekenntnis werden – wir müssen uns aktiv dafür einsetzen und auch gegen jene vorgehen, die eine solche Lösung verunmöglichen.

Das ist eine Debatte, die auch die Grünen aufwühlt?

Sicher. Wir haben auf dem Parteitag klar gemacht, dass Israel das Recht auf Waffen hat, um sich gegen Feinde wie die Hizbullah oder die Huthis zu verteidigen. Wir verschließen aber auch nicht die Augen vor der Realität der aktuellen israelischen Regierung, die alles daran setzt, eine friedliche Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern. Das alles ist aber nicht nur bei den Grünen eine schwierige Debatte, sondern eine gesellschaftliche Diskussion.

Ist die Debatte denn bei den Grünen damit befriedet – bei der letzten Wahl haben Sie viele junge Menschen an die Linkspartei verloren und deren israelkritische Free-Palastine-Position dürfte dabei eine Rolle gespielt haben?

Ja, wir haben damit gerade junge Wähler an die Linke verloren. Aber ich mache meine Nahost-Politik nicht an Wahlumfragen fest. Einfache Polarisierung kann und wird auch in der Opposition nicht unsere Position sein.

Aber wenn man die jungen Wähler nicht an die Extremen verlieren will, muss man sich mit den Positionen auseinandersetzen?

Genau das ist der Punkt, der mir wichtig ist. Es gibt außerhalb der Ränder eine Sprachlosigkeit bei dem Thema Israel und Palästina, die dazu geführt hat, dass sich viele Radikalen angeschlossen haben, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen. Dann kann man schnell linksaußen im Antisemitismus oder rechtsaußen im antimuslimischen Rassismus landen. Und am Ende der Debatte fühlen sich die Jüdinnen und Juden in Deutschland weniger sicher und Menschen mit arabischem Hintergrund auch. Das ist doch absurd. Die Gefahr ist, dass aus der mangelnden Sprechfähigkeit Hass wird. Wir Grüne bleiben stattdessen gemeinsam respektvoll im Gespräch. Das war viel Arbeit, es gab auch mal Tränen, weil es sehr emotional ist. Aber wir haben Menschen wieder in diesen Dialog reingeholt.

Der frühere Grünen-Außenminister Joschka Fischer hat kürzlich bei einer Veranstaltung gesagt, die Europäer seien den Herausforderungen nicht gewachsen, die „Bla-Bla-Institutionen der EU“ machten ihn krank. Hat er Recht? – und sehen Sie die Zukunft ähnlich düster wie das grüne Orakel vom Grunewald?

Joschka Fischer ist immer ein kluger Betrachter der Realität, aber ich bin nicht so pessimistisch. Es stimmt: Diese 27er-Einstimmigkeits-Runden mit einem Herr Orbán werden unsere Sicherheit nicht verteidigen. Wir müssen neue Wege gehen, um Frieden in Freiheit auf diesem Kontinent zu schützen. Dafür wollen wir eine Verteidigungsunion mit einem europäischen Sicherheitsrat gründen, in der auch Norwegen oder Großbritannien eine wichtige Rolle spielen können. Auch die Ukraine sehe ich da, von der wir viel lernen können. Trump hat uns gerade eine Scheidungsurkunde geschickt, das muss der Moment sein, in dem die Willigen voran gehen in Europa.

Bei der Verteidigung voranzugehen bedeutet in letzter Konsequenz aber auch bereit zu sein, eigene Truppen zu schicken – so wie es bei den Sicherheitsgarantien für die Ukraine jetzt auch zu entscheiden ist. Stimmen die Grünen für ein Bundeswehrmandat auf ukrainischem Boden?

Wir diskutieren die Sicherheitsgarantien und dafür ist entscheidend, was die Ukraine will. Natürlich muss Europa einen Teil dieser Sicherheit garantieren. Der Glaube, dass Amerika ein Interesse an einer sicheren Ukraine hätte, ist hinfällig. Damit begrenzt sich der Kreis der Staaten, die für die Sicherheit glaubhaft einstehen können.

Mit oder ohne deutsche Soldaten auf ukrainischem Boden?

Wo oder wie wir die Sicherheit garantieren, müssen wir jetzt gemeinsam diskutieren. Da gibt es unterschiedliche Modelle. Wir dürfen nur nicht vergessen, dass die Ukraine schon ihre Erfahrungen mit Sicherheitsgarantien gemacht und sogar auf ihre Atomwaffen freiwillig verzichtet hat. Wir dürfen sie nicht wieder so enttäuschen.