
30 Kilometer nordwestlich von Groningen im Hafen Lauwersoog machen Skipper auf der „Willem Jacob“ klar Schiff zum Auslaufen. Vor 58 Jahren wurde hier die Nordsee nach einer verheerenden Sturmflut eingedeicht und als Binnensee sich selbst überlassen. Aus schlickigen Sümpfen, bewaldeten Inseln, wogendem Schilf und wilden Orchideenwiesen entstand der Nationalpark Lauwersmeer.
Eine kleine Reisegruppe hievt ihr Gepäck an Bord des umgebauten, 26 Meter langen Ein-Mast-Klippers aus dem Jahr 1889. Durch eine Luke mit steiler Holztreppe steigen die Gäste hinab in den als Wohnzimmer eingerichteten ehemaligen Frachtraum. Eine Kombüse, zwei Holztische mit Bänken, eine Seefahrtsbibliothek, Sofa und Kohleofen sowie schmale Hochbetten und Toiletten möblieren den 50 Quadratmeter großen Raum.
Die Luft riecht nach Salz und See. Auf dem Oberdeck werden die ersten Gläschen Genever gesüppelt. „Ihr befindet Euch auf einem Plattbodenschiff. Weil es keinen Kiel und nur 96 Zentimeter Tiefgang hat, kann es vor Sandbänken trocken laufen“, erklärt Schiffsmaat Ruth. Gemächlich gleitet der Eilandhopper durch die Wellen. Meile um Meile hellt der Himmel auf. Jaap Klosterhuis platziert ein armlanges Fernrohr an Deck: Seehunde und zwei Meter große Kegelrobben fläzen sich auf Sandbänken, Austernfischer picken mit ihren langen Schnäbeln Würmer aus dem lehmigen Meeresboden während am Himmel Vogelschwärme in akrobatische Flugformationen unterwegs sind. Millionen Vögel kommen jedes Jahr in die Speisekammer Wattenmeer und sammeln für ihren Weg nach Süden Reiseproviant, berichtet Jaap, als ein Dutzend wild schnatternder Gänse am Mast vorbeirauscht. Um ein unvergessliches Vogelspektakel zu erleben, müsse man jedoch bei Hochwasser eine Beobachtungsstation am besten auf einem Deich aufsuchen. Die Aktivität der Vögel richte sich nämlich nach den Gezeiten. Wenn das Watt überflutet ist, rasten sie in großen Trupps auf Salzwiesen oder an Wasserstellen im Binnenland. Bei Ebbe seien die Tiere im Watt und oft nur mit einem Fernglas zu beobachten, berichtet der Parkförster.
Martijn ruft „alles is duidelijk!“, alles klar. Das Wasser hat sich zurückgezogen. Der Maat stoppt den Motor und lässt 20 Meter vor einer Sandbank am Schiffsbug eine Leiter herunter. Eingepackt in dicke Windjacken, mit kurzen Hosen, langen Stiefeln oder barfuß waten die Passagiere durch das kniehohe Wasser an „Land“. „Braucht Ihr einen Laufstab oder wollt Ihr einen starken Mann?“ grinst Jaap: „Wir haben auch schon Minister in den Sandkasten getragen!“
Der feste Boden der knapp einen Quadratkilometer großen „Engelsmanplaat“ ist leicht begehbar. Leichter vermutlich als der schmatzende tiefe Schlick, durch den am blauschimmernden Horizont eine Schar „Watloper“ zur Insel Schiermonnikoog stapft. Bald sind die Wattläufer nur noch als schwarze Striche vor dem sich orange und ockergelb färbenden Himmel wahrnehmbar. Zerfetzte, tief über dem Watt hängende Wolken scheinen in die Nordsee zu fallen. Dann brennt der Himmel lichterloh. Die untergehende Sonne taucht die Szenerie in ein gewaltiges Glutrot, spiegelt sich eitel in Prielen und Wasserrinnen und geht mit dramatischem Finale im Meer auf Tauchstation. Niemand spricht ein Wort. Nur manchmal ist ein leises Knistern oder Glucksen im Boden zu hören.
Mit auffrischendem Seewind in den Haaren verlässt die Gruppe ihren Logenplatz in der Wildnis. Matsch abspülen, einen wärmenden Schnaps kippen – dann geht‘s zur nächsten Naturshow an Deck. Pechschwarze Nacht umhüllt das nun in seichter Flut dümpelnde Schiff. Nur oben am Firmament kommt Helligkeit ins Dunkel. Tausende Lichter funkeln so hell wie sonst nur über der Wüste. Neben dem silbrigen Band der Milchstraße ziehen Satelliten ihre Bahn, dazwischen flitzen Sternschnuppen durch den Kosmos.
Je nach Jahreszeit bilden sich an einem wolkenlosen Nachthimmel unterschiedliche Sternenbilder, weiß Jaap Klosterhuis. Dass die über Land aber immer öfter im Dunkeln blieben, liege an den „Schattenseiten des Lichts“. Leuchtreklame, Skybeamer oder Straßenlaternen stülpen eine Lichtglocke über die Städte. Weltweit nehme die Beleuchtung pro Jahr um zwei Prozent zu. Dunkelheit werde nur noch als ein von fahlem Kunstlicht beleuchteter Himmel wahrgenommen. Menschen könne der Lichtmüll krank machen, Tieren raube er die Orientierung. Und wann wird‘s mal wieder richtig dunkel? Im Nationalpark Lauwersmeer hat man begonnen, dem „hellen Wahnsinn“ zu Leibe zu rücken. Vor einem Jahr wurde das Gebiet ohne Lichtverschmutzung zum zweiten Dark-Sky-Park in den Niederlanden erklärt. „Wandern in der Dunkelheit ist ein ganz besonderes Erlebnis“, wirbt Jaap für eine Exkursion durch die Finsternis im Nationalpark – zum Beispiel auf dem dunkelsten Radweg der Niederlande? Niemand hört ihm zu. Jeder wandert mit seinen Augen nur durch das Sternenmeer.