Manche der Beobachtungen, die derzeit in Sunderland in Worte und Sätze gefasst werden, wecken erstaunliche Erinnerungen an die unvergessene Saison von Bayer Leverkusen, die mit dem Gewinn von DFB-Pokal und Meisterschaft endete.
„Er ist wie ein zweiter Trainer, der jeden Tag Standards setzt“, hat Régis Le Bris neulich über Granit Xhaka gesagt, fast wortgleich äußerte sich einst auch Xabi Alonso bei Bayer 04 über den ehemaligen Anführer der Werkself. „Wenn die Qualität der Trainingseinheit nicht stimmt, wird er laut“, berichtet der Stürmer Wilson Isidor aus dem Alltag in Sunderland über Xhaka, der auch in Leverkusen keine Unkonzentriertheiten während der Übungen ertragen konnte.
Nur ein Tor fehlt zu Platz zwei
Xhaka war der Chef am Rhein, genau wie jetzt in der ehemaligen Bergarbeiterstadt, wo er Kapitän ist und zuletzt beim 1:1 gegen den FC Everton seinen ersten Treffer für den neuen Klub erzielte. Und wo gerade eine Entwicklung Fahrt aufnimmt, die ähnlich surreal erscheint wie der Gedanke an einen Meistertitel bei Xhakas Ankunft in Leverkusen.
Nur ein Tor fehlte dem Klub aus dem Nordosten Englands für den Sprung auf den zweiten Tabellenplatz der besten Liga der Welt. Nach einem sensationellen 2:1-Sieg beim FC Chelsea in der Woche zuvor waren die „Black Cats“ der zu diesem Zeitpunkt sechstbeste Aufsteiger der Premier-League-Geschichte.
Derzeit ist Sunderland Vierter, und viele Beobachter sind sich sicher: Xhaka ist der beste Spieler des Teams. „Ich fand Granit Xhaka absolut phantastisch“, sagte Jamie Carragher, der früher für den FC Liverpool sowie im englischen Nationalteam spielte und heute als TV-Experte arbeitet, nach dem Everton-Spiel. „Nicht nur wegen seines Tores. Er war heute Abend allen anderen auf dem Platz haushoch überlegen.“
Ähnlich klingt Trainer Le Bris, wenn er sagt, Xhaka gebe dem gesamten Team „Zuversicht und Hoffnung. Auf dem Platz hat er jedes Detail im Griff. Er löst Probleme.“ So wie gegen Everton, als das Team schnell mit 0:1 zurücklag, bevor Xhaka begann, den Widerstand zu organisieren.
„Diese Emotionen, dieser Teamgeist“
Oft ist gar nicht direkt sichtbar, worin sein Einfluss besteht, aber in guter Form entlastet er seine im Zeitalter des Pressingfußballs ständig unter Druck stehenden Kollegen. Durch gute Angebote – fast immer ist in den Aufbauphasen einer seiner Füße anspielbar.
Oder er zeigt gestenreich an, wo eine andere sinnvolle Spielfortsetzungsoption zu finden ist. Und im Moment ist er brillant in Form. „Granit hat uns in wichtigen Momenten angetrieben, zeigte Klasse bei seinem Tor und war wieder einmal sehr wichtig für uns“, sagte Le Bris, und Xhaka erklärte: „In der zweiten Halbzeit war genau das zu sehen, was uns stark macht: diese Emotionen, dieser Teamgeist.“
Nach neun Spielen gab es keinen Premier-League-Spieler, der mehr gelaufen war als der 33 Jahre alte Schweizer. Er steht auf dem vierten Platz der Torvorbereiter, hat eine für einen Mittelfeldspieler imponierende Passquote von 83 Prozent, und am Montag gegen Everton hat er auch sein erstes Tor geschossen. Carragher lobte Xhaka sogar als „besten Sommertransfer der gesamten Premier League“.
Xhakas Wirkungsbereich befindet sich übrigens genau dort, wo während der vergangenen Saison noch der für 30 Millionen Euro zu Borussia Dortmund gewechselte Jobe Bellingham spielte. Mittlerweile ist klar: Der Tausch war nicht nur wirtschaftlich vorteilhaft für den Trainer Le Bris und den erst 28 Jahre alten Klubbesitzer Kyril Louis-Dreyfus.
„Erik ten Hag war nie das Problem“
Diese Auferstehung des Schweizer Nationalspielers nach einem insgesamt eher müden zweiten Jahr in Leverkusen wird auch dort zur Kenntnis genommen. Denn bei Bayer 04 fehlt genau so ein Spieler, der das immer noch sehr unfertige Team von Kasper Hjulmand führen kann. Aber irgendwie ereignete sich am Rhein eine merkwürdige Entfremdung, über deren Details geschwiegen wird.
Wer sich ein wenig in Leverkusen über die Hintergründe der Trennung umhört, spürt schnell die Enttäuschung, mit der diese im Meisterjahr so magische Liaison zwischen diesem besonderen Spieler und Bayer 04 zu Ende ging. Xhaka habe trotz eines laufenden Vertrags einfach noch einmal deutlich mehr verdienen wollen, heißt es aus verlässlichen Quellen.
Falsch sei, dass der im Frühjahr vorgestellte Trainer Erik ten Hag der Grund für Xhakas Wechselwunsch gewesen sei: „Mich ärgert, dass Erik als Problem dargestellt worden ist. Das war er nie“, hat Xhaka in der Schweizer Zeitung „Blick“ versichert. Eventuell hätte sich dieser manchmal etwas eigensinnige Fußballer eine noch größere Wertschätzung der Klubführung gewünscht, in jedem Fall wollte er irgendwann einfach nur noch weg.
Kontakte gab es nach Saudi-Arabien und zur AC Mailand. Dass die Wahl dann ausgerechnet auf den Verliererklub Sunderland fiel, ließ dann manchen Leverkusener spotten. Ein Vorstellungsvideo, das der Premier-League-Aufsteiger veröffentlichte, hinterließ den Eindruck, Xhaka kenne weder seine künftigen Mitspieler noch seinen neuen Klub und auch nicht die Stadt, in der er nun lebt. Hauptsache, weg, Hauptsache Geld, also? Vielleicht spielten Gehalt und Prämien tatsächlich eine Rolle, aber Xhaka ist zweifellos auch ein Mann, der etwas von diesem Spiel versteht.
„Das musst du machen, Granit!“
Nach einer Schalte mit Louis-Dreyfus, Le Bris und dem Sportchef Kristjaan Speakman war er überzeugt, dass in Sunderland mit dem durch den Bellingham-Verkauf und den Aufstieg eingenommenen Geld vielversprechende Fortschritte möglich sind.
„Nach dem Telefonat spürte ich: Das musst du machen, Granit!“, erzählte er in diesem Herbst. Hinzu komme, dass ihn das Schicksal des zuletzt eher erfolglosen und 2018 sogar in die dritte Liga abgestiegenen Klubs an seine eigene Familiengeschichte erinnere. Seine Eltern kamen als Flüchtlinge in die Schweiz und mussten sich mühsam nach oben arbeiten.
So eine Geschichte will Xhaka nun auch mit Sunderland schreiben. Das nächste Kapitel: ein Duell an diesem Samstag (18.30 Uhr MEZ bei Sky) bei seinem ehemaligen Klub FC Arsenal, wo er sieben Jahre lang vergeblich auf die Anerkennung hoffte, die ihm nun zuteilwird.
