
Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 27/2025.
Vergessen Sie die Stromsteuerersparnis für
Privathaushalte, die, obwohl eigentlich angekündigt, bis auf Weiteres eingespart
wird von der großen Koalition, vergessen Sie auch die Spielplätze, die in Köln nicht
mehr Spielplätze heißen dürfen, sondern auf Geheiß der Stadtverwaltung fortan
als „Spiel- und Aktionsflächen“ firmieren, was rein definitorisch in Köln eine FKK-Therme
mitmeinen könnte, ja vielleicht sogar mitmeinen soll, vergessen Sie auch die angeblich
überall in Deutschland herumliegende Taubenkacke, über die sich auf bild.de
gerade die Leser-KI empört („Diese Viecher machen mich wahnsinnig“), denn hier und
jetzt kommt der wahre Skandal dieses Sommers: Sommerhits werden immer kürzer, so
lautet das Ergebnis einer Analyse von 1.200 Number-One-Hits, die der Economist
jüngst veröffentlicht hat und nach der die durchschnittliche Länge eines chartkompatiblen
Sommersongs in den letzten 35 Jahren von 4 Minuten und 22 Sekunden auf 3
Minuten 34 Sekunden geschrumpft ist, denn längere Songs streamen einfach mies, weshalb
die 32-Minuten-Version von Wring That Neck auf dem Album Live in
Stockholm von Deep Purple –1970 war musikalisch ein guter Jahrgang – im Spotify-Verdrängungswettbewerb
leider keine Chance mehr hat und deshalb wahrscheinlich nur noch auf Platte von
den letzten analogfixierten Classic-Rock-Silver-Agern auf dem Wohnzimmerteppich
liegend und mit selbst gebauten Joint im Mundwinkel genossen wird, und das ist
natürlich schade, um nicht zu sagen ein Skandal, denn die Orgel- und
Gitarrensoli, die in Wring That Neck verbaut sind, sind wirklich groß,
wobei man der an musikalische Kurzweil gewöhnten Spotify-Generation an dieser
Stelle vielleicht erklären sollte, was genau daran eigentlich so groß und genial
ist, obwohl man das natürlich hört und es nie genug Worte gibt, um etwas so
Magisches wie Musik zu erklären, sagen wir deshalb so: Sie sind laut und leise,
zärtlich und aggressiv, intensiv, aber manchmal auch ganz schön öde, mit
Zwischenhöhepunkten, wechselnden Rhythmen, handwerklich virtuos und alles in
allem – nun ja – wie Liebemachen eben, zumindest wird ein gutes Gitarren- oder
Orgelsolo damit gerne verglichen, wobei man natürlich nur ungern anderen beim
Liebemachen zuhört, den Nachbarn oben drüber etwa, aber wenn die Jungs von Deep Purple sich ein halbes Stündchen eine Orgel vornehmen, ist das natürlich etwas
anderes, dann ist es ein Ereignis, und für das braucht man Muße und
Konzentration, dann aber erweitert sich die Aufmerksamkeitsspanne und man hört
anders hin, genauer, geduldiger, gerade weil es eine Zumutung ist, manche Soli
besonders, da muss man gar nicht nur in die Rockgeschichte schauen, auch die
Literatur hat da einige epische Liebhabereien zu bieten, in Thomas Manns Joseph
und seine Brüder etwa gibt es einen Satz, der ist 347 Wörter lang, ein monolithischer
und gleichzeitig genialer Wahnsinn, den man nur mit einer gesunden Dosis
Masochismus und Grimms Wörterbuch erträgt, oder nehmen wir Gabriel García Márquez, dieser fünfundfünfzigseitige Bandwurmsatz im Herbst des Patriarchen,
ein nobelpreiswürdiger Brummer, oder Unendlicher Spaß von David Foster
Wallace, ein Zwölf-Seiten-Satz-Solo mit so vielen Klammern und Fußnoten, dass
man sich vorkommt, als würde man auf dem Rummel von der „Wilden Maus“
durchgeschüttelt, bis man grün im Gesicht ist, ein beinahe unendlicher Spaß
tatsächlich, durch den man sich arbeiten muss, um irgendwann seine
masochistische Freude daran zu haben, wobei man natürlich sagen muss, dass auch
in der Kürze bisweilen Würze steckt, im Punkrock etwa sind 3 Minuten und 34
Sekunden eine Ewigkeit, da muss ein Song ein Faustschlag sein, ansatzlos, hart
und nur so lang, wie man braucht, um ein Hotelzimmer zu verwüsten, manchmal
aber ist ein Song, der uferlos ist wie ein Ozean, auch ganz schön, man kann in
ihn eintauchen, untertauchen, sich versenken, wohingegen so ein Spotify-Sommer-Liedchen
nur etwas für Nichtschwimmer ist oder wie eine lauwarme Dusche, wenn man gerade
eine Ice Bucket Challenge nötig hätte, nein, für Wring That Neck braucht
es den Plattenspieler oder so ein Kassettendeck, bei dem jetzt alle Silver-Ager
sicher nostalgisch werden, da drückte man auf Play und lässt durchlaufen, weil
man ansonsten Angst haben muss, spulend einen Bandsalat aus der Hölle zu
produzieren, und ja, so ein Endlos-Solo ist in seiner ganzen Affektiert- und Antiquiertheit
natürlich größenwahnsinnig und gerade deshalb immer auch ein wenig peinlich, aber egal, was soll’s, hin und
wieder sollte man Spotify den Mittelfinger zeigen, und je länger der ist, desto
besser, auch wenn irgendwann, etwa nach 704 Wörtern, Schluss sein muss, dann
grüßt man die Götter des Rock und macht, bevor man sich verbeugt, aufs
Geratewohl einen Punkt,