Philosophen denken seit jeher darüber nach, «was die Welt im Innersten zusammenhält». Woher weiss man beispielsweise, was „drei“, „gelb“ oder „grossartig“ bedeutet? Sind es Begriffe der Vernunft oder sind sie schon bei unserer Geburt in uns drin?
Wissen – Glauben – Überlieferung
Solche Überlegungen mögen in einer Zeit, in der gerne auf Wissenschaft referenziert wird, nützlich sein. Dabei gibt es Menschen, die glauben, Wissenschaft habe mit (ultimativem) Wissen zu tun und das sei das Gegenteil von Glauben. Dabei ist ja doch Glauben ein Überbegriff von Wissen, denn was man weiss, glaubt man auch, aber nicht alles, was man glaubt, ist belegt. Dann gibt es Menschen, die glauben, dass Wissen etwas mit „Wahrheit“ zu tun hat, und dass alles, was die Wissenschaft behauptet, auch „wahr“ sei.
Es ist also sinnvoll darüber nachzudenken, «was die Welt im Innersten zusammenhält», wenn wir uns nur stets bewusst sind, dass Denken eine Funktion unseres Gehirns ist. Es ist fehleranfällig und beschränkt. Die Beschränktheit zeigt sich auch darin, dass die orthodoxen Überzeugungen auf einer Betrachtungsweise beruhen, die vor 2500 bis 3000 Jahren vor allem durch griechische Philosophen begründet wurde. Damals waren philosophische Theorien noch nicht so abstrakt und alltagsfern wie heute. Die griechischen Philosophen legten das Fundament für die westlichen Gesellschaften und das Zusammenleben innerhalb deren. Dabei etablierten sich Ansichten, die mittlerweile tabu sind, aber längst nicht mehr auf unsere heutige komplexe Welt angewendet werden können. Dabei denke ich z.B. an den Platonschen „Ideenhimmel“ und an die klassische aristotelische Logik.
Der Blog philosophies – Freunde der Philosophien – ist eine wahre Fundgrube philosophischer Themen und wird von Dirk Boucsein betrieben, der von sich sagt, dass er
immer mit (s)einer ‚Diogenes-Lampe‘ unterwegs [sei], um Menschen zu finden, die sich auch nach ein wenig ‚Licht der Erkenntnis‘ sehnen.
In seinem hoch interessanten, wenn auch nicht leicht lesbaren Beitrag Die Metamathematik – ist doch metalogisch?!? – eine Vertonung der Ontologie der Mathematik oder Metalogik – versucht Boucsein das mathematische Fundament zu ergründen.
Der Ideenhimmel
Warum das? Warum leuchtet einer mit dem Licht der Erkenntnis auf mathematische Dinge? Weil mathematische Dinge abstrakt und allgemein sind, also typische Universalien. „Zahl“ oder „Relation“, aber auch „Gerechtigkeit“ oder „Menschheit“ sind Universalien und die Frage, ob solchen Allgemeinheiten eine Existenz zukommt oder sie bloss menschliche Denkkonstrukte sind, ist eines der zentralen Themen der Philosophie.
Während es bei der Diskussion um „Gerechtigkeit“ vermutlich zuerst um die Definition geht, ist diese bei mathematischen Dingen unmissverständlich gegeben. Wer sich also um das Universalienproblem bemüht, tut gut daran, dieses anhand mathematischer Begriffe zu studieren.
Das Thema wird allerdings seit 2500 Jahre diskutiert und schon nur die Tatsache, dass man in dieser Zeit keine abschliessenden Resultate gefunden hat, lässt vermuten, dass es sich um Ansichtssache handelt. Einer der ersten, die sich darüber den Kopf zerbrochen haben, ist niemand geringeres, als der grosse Platon. Seine Ideenlehre handelt nicht in erster Linie von „zündenden Ideen“, wie man etwas erreichen könnte, sondern von begrifflichen Ideen, wie „der Mensch an sich“ (Menschheit) oder „das Gerechte an sich“ (Gerechtigkeit). Platons Ideenlehre ist ein kompliziertes Labyrinth und kann nicht mit paar Worten dargelegt werden, aber worauf sie hinaus will ist, dass die Universalien selbst zwar keine Sinnesobjekte sind, diesen aber Sein und Wesen verleihen. Wikipedia schreibt treffend:
Jedes Sinnesobjekt verdankt sein Dasein und seine artspezifische Natur dem objektiven Sein und der Eigenart der ihm zugrunde liegenden Idee. Beispielsweise existieren Pferde mit ihren arttypischen Merkmalen, weil es die Idee des Pferdes gibt. Für die Idee des Pferdes hingegen spielt es keine Rolle, ob es auf der Erde Pferde gibt oder nicht.
So beschreibt es Wikipedia. Für mich steht ausser Frage, dass sich die Idee des Pferdes gar nicht erst hätte etablieren können, wenn es keine Pferde gäbe. Erst durch die Beobachtung von Pferden sind die Menschen auf die Idee des Pferdes gekommen. Aber solcherlei Räsonieren erinnert mich an die Scholastik. Ich bin nicht überzeugt, dass die scholastische Methode heute noch verfolgt werden sollte.
Ob deswegen die Ideen „Pferd“ oder „Zahl“ jenseits von Raum und Zeit existieren, wie es Platon glaubte, wage ich zu bezweifeln, zumal „Raum“ und „Zeit“ ebensolche abstrakte Allgemeinplätze sind. Ich frage lieber so: „Muss eine weit entfernte extraterrestrische Zivilisation notwendigerweise auf dieselben Ideen kommen, wie wir“? Bei den natürlichen Zahlen kann ich es mir sehr gut vorstellen. Sogar bei Raben hat man nachgewiesen, dass sie eine Idee (kleiner) natürlicher Zahlen haben. Ob jedoch eine fremde Zivilisation notwendigerweise auf dieselben Ideen von Raum oder Gerechtigkeit kommt, ist doch eher unwahrscheinlich. Also würde ich diesen Begriffen eine transzendente Existenz absprechen und sie zum Typ menschlicher Fiktion machen, die seit Jahrtausenden narrativ perpetuiert und dabei immer wieder verzerrt werden.
Eine Ideenpumpe
Boucsein stellt zunächst dem
ambitionierten Mathematiker die Frage, wo denn ’seines Pudels Kern‘ ist oder besser gesagt, wo denn die ontologische Basis der Mathematik liegen möge.
Und weiter stellt er fest, dass „es … fast immer zur Antwort [kommt]: in der Logik!“ Ich weiss nicht wie viele und welche Mathematiker er gefragt hat, aber – wie einst einer meiner verehrten Mathematikerkollegen bemerkte: „kein heutiger Mathematiker ist wirklich an den Grundlagen seiner Disziplin interessiert! Er benutzt einfach etwas naive Mengenlehre und denkt gar nicht gross darüber nach, wie sich diese sorgfältig axiomatisieren lässt“.
Um 1900 erhofften sich noch einige Mathematiker, dass alle ihre Konzepte und Begriffe (ich vermeide die Bezeichnung Objekte, da sie schon anderweitig besetzt ist), die angeblich ausserhalb des menschlichen Daseins existieren, durch einen logischen Kalkül und Formalismus entdeckt werden können (keine Ahnung, woher sie das wussten). Man stellte ein Axiomensystem auf, aus dem alle mathematischen Sätze herleitbar sein müssen. Ich stelle mir vor, dass dieses Axiomensystem dann so ähnlich wie eine Ideenpumpe funktionieren sollte, die die Platonschen Ideen aus der Transzendenz absaugt und dem menschliche Denken zur Verfügung stellt.
Hier zeigt es sich bereits, wie menschengebunden die Mathematik ist. Es sind die (willkürlich definierten) Axiome, die bestimmen, was für mathematische Sätze und Konzepte entdeckt werden können. Die Axiome, wie das Gesetzt des ausgeschlossenen Dritten oder das Auswahlaxiom haben sich die damaligen Mathematiker aus den Fingern gesogen, bzw. in respektvoller Anlehnung an Aristoteles übernommen.
Das Auswahlaxiom
Das Auswahlaxiom nimmt an, dass in einer Familie von Mengen jeder dieser Menge eines ihrer Elemente zugeordnet werden kann. Betrachten Sie zum Beispiel die Mengen
A={1,2}
B={a,b}
C={*,&}
D={schwarz, weiss}
Das sind vier Mengen, die jeweils nur zwei Elemente enthalten. Natürlich kann ich jetzt jeder Menge eines ihrer Elemente zuordnen, indem ich eine Tabelle mache:
Menge | ausgewähltes Element |
A | 1 |
B | b |
C | * |
D | weiss |
Das geht auch locker, wenn ich unendlich viele Mengen habe, z.B. alle Teilmengen der natürlichen Zahlen, wie
A={1,2}
B={6,8,9}
C={100,200,300,400}
D={2,4,6,8,…}
…
Jede dieser Menge enthält ein kleinstes Element, hier z.B. die 1 in A, die 6 in B, die 100 in C und die 2 in D. Somit kann ich einfach jeder Teilmenge der natürlichen Zahlen ihr kleinstes Element zuordnen, et voila! Da klappt es dank der Tatsache, dass die natürlichen Zahlen von kleiner zu grösser geordnet sind. Wenn ich aber unendlich viele beliebige, d.h. unstrukturierte Mengen habe, dann gibt es keine Möglichkeit mehr, aus jeder dieser Menge eines ihrer Elemente auszuwählen und zu benennen, weil ich mit einer Tabelle nie fertig werden würde.
Die Behauptung, dass es auch in diesem Fall eine – zuweilen unbekannte – Zuordnung gibt, ist derart ungeheuerlich, dass sie bei vielen Mathematikern auf Skepsis stiess. Sie sagten, dass die Zuordnung in diesem Fall nicht konstruierbar ist und verlangten, dass in der Mathematik nur konstruierbare Dinge betrachtet werden sollen. Damals stiess eine solche Forderung auf viel Widerstand, weil mit Hilfe des Auswahlaxioms bereits zu viele (schöne?) mathematische Sätze aus dem Platonschen Ideenhimmel herunter gesogen wurden, als dass man darauf verzichten wollte. Ich stritt mich einmal mit einem Mathematikerkollegen, ob das Bequemlichkeit oder Machtgehabe war. Vielleicht war es Bequemlichkeit, die man mit der Macht, die man hatte, durchsetzte. Schliesslich war es damals noch die Mehrheit, die an das Auswahlaxiom glaubte. Mit dem Aufkommen von Computern und Algorithmen hat sich der Spiess gedreht. Aber das hängt natürlich niemand an die grosse Glocke. Es gibt immer noch Mathematiker, die sich im Dung des Auswahlaxioms suhlen und sich dort sauwohl fühlen.
Das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten
Neben den Konstruktivisten gibt es auch die Intuitionisten. Boucsein schreibt, dass der Intuitionismus „die Logik als vormals unumstrittene Basis mathematischer Deduktionen enttrohnt“. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Für Intuitionalisten ist wahr, was bewiesen werden kann. Aber für einen Beweisschluss benötig man die Implikation „Wenn das, dann jenes“, also z.B. „Wenn es regnet, dann wird der Boden nass“ oder „Wenn a und b natürliche Zahlen sind, dann ist auch a+b eine natürliche Zahl“. Geschrieben wird die Implikation „Wenn a, dann b“ in der Form a⇒b. Die Implikation gibt es nicht in jeder Logik. Es waren die Intuitionalisten (Arend Heyting), die genau definierten, was unter a⇒b zu verstehen ist. Das ist eine zweistellige Operation, ähnlich wie «a oder b», die zwei Aussagen eine dritte Aussage zuordnet. In der klassischen Logik erklärte man die Implikation, indem man ihre Gültigkeit aus den Wahrheitswerten der beiden beteiligten Aussagen a und b festmachte. In der intuitionistischen Logik gibt es keine Wahrheitswerte mehr. Heyting musste sich also eine andere Definition von a⇒b überlegen.
Aus a⇒b folgt immer ¬b⇒¬a. Das ist die Kontraposition und liest sich als „wenn nicht b, dann auch nicht a“, also z.B. „wenn der Boden nicht nass ist, dann regnet es auch nicht“. Für Aristoteles waren a⇒b und ¬b⇒¬a äquivalent, aber für die Intuitionisten kann aus ¬b⇒¬a nicht auf einfach a⇒b geschlossen werden. Zwar kann aus ¬b⇒¬a auf ¬¬a⇒¬¬b geschlossen werden, aber „nicht nicht a“ ist eben nicht zwingend dasselbe wie a!
Das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten (oder auf Lateinisch: Tertium non Datur) behauptet, dass das Ganze stets in zwei Teile aufgeteilt werden kann, die nahtlos wieder zum Ganzen zusammengefügt werden können. Ich habe darüber bereits in meinem Artikel Die Wissenschaft soll’s richten geschrieben.
In der klassischen Logik besteht eine Menge M aus der Vereinigung einer ihrer Teilmenge T und deren Komplement ¬T. Wenn z.B. die Menge M als Elemente die ersten fünf natürlichen Zahlen enthält, M={1,2,3,4,5}, dann ist T={1,2,3} eine Teilmenge. Ihr Komplement ¬T ist alles, was nicht in T ist, also ¬T={4,5}. Und offensichtlich ist M die Vereinigung dieser beiden Teilmengen, also das Resultat des „Zusammenschüttens“ der Elemente von T und derjenigen ihres Komplements. M = T ∪ ¬T (das Tassen-Zeichen sagt: schütte die Elemente beider Menge zusammen). Da gilt also das Gesetzt des ausgeschlossenen Dritten: entweder gehört das Element 3 zu T oder zu ¬T. Das stimmt hier auf alle Fälle.
Es gibt aber andere Situationen, wo das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten nicht gilt. Nehmen wir mal an, das Ganze seien alle Intervalle, die zwischen 0 und 1 liegen, aber keinen Anfangs- und keinen Endpunkt haben, es sei denn das Intervall beginnt bei 0 oder endet bei 1. Hier sind einige Beispiele:
- Das Intervall von 0.25 bis 0.5 gehört ohne die 0.25 und ohne die 0.5 dazu.
- Das Intervall von 0 bis 0.25 gehört inklusive die 0 und ohne die 0.25 dazu.
- Das Intervall von 0.5 bis 1 gehört ohne die 0.5, aber mit der 1 dazu.
- Und selbstverständlich gehört das Intervall zwischen 0 und 1 inklusive dazu.
Nun nehmen wir das Intervall T von 0 bis 0.5, inklusive der Null, aber exklusive der 0.5. Das Komplement dieses Intervalls ist ¬T=(0.5;1], also alle Zahlen zwischen 0.5 exklusive und 1 inklusive. Die Vereinigung von T und ¬T enthält aber nicht alle Zahlen zwischen 0 und 1, weil die Zahl 0.5 fehlt! Man kann also nicht sagen: entweder ist eine Zahl in T oder in ¬T, denn die 0.5 gehört in keines der beiden Intervalle. Das ist nicht ein dritter Weg. T und ¬T schöpfen einfach noch nicht das Ganze aus; es gibt noch etwas jenseits von T ∪ ¬T.
Es kommt also ganz auf die Struktur des zugrundeliegenden Systems an, ob das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten stimmt oder nicht.
Boucsein zitiert Matthias Neuber:
Dieses Tertium non Datur dem Mathematiker zu nehmen, wäre etwas, wie wenn man dem Astronomen das Fernrohr oder dem Boxer den Gebrauch der Fäuste untersagen wollte.
Das ist sicher nicht richtig, denn der Mathematiker arbeitet mit logischen Strukturen, in denen das Tertium non Datur nicht gilt. Hingegen ist das Tertium non Datur vor allem ausserhalb der Mathematik unumstritten. An seinen Festen zu rütteln ist tabu!
Wie hat Unendlich in Ihrem Kopf Platz?
Das Unendlichkeitsproblem erregte schon immer die Aufmerksamkeit der Philosophen. In der Mathematik hat die Unendlichkeit fast wie selbstverständlich Einzug gehalten. Z.B. gibt es unendlich viele natürliche Zahlen. „Unendlich“ ist auch so eine Platonsche Idee, die angeblich ausserhalb Raum und Zeit und unabhängig des menschlichen Denkens existiert. Die Inuitionalisten sagen, dass die Menge der natürlichen Zahlen potentiell unendlich sei und es das platonsche aktual Unendliche gar nicht gebe. 0 ist eine natürliche Zahl und zu jeder natürlichen Zahl gibt es genau einen unmittelbaren Nachfolger. Um nun die Problematik der Unendlichkeit zu demonstrieren, argumentiert Boucsein, dass es dann auch einen Nachfolger von „Unendlich“ geben muss. Aber „Unendlich“ ist keine natürliche Zahl! Es gibt keinen natürlichen Nachfolger von „Unendlich“. Andererseits gibt es in der Tat eine Unendlichkeit, die grösser als Unendlich ist. Es gibt sogar unendlich viele Unendlichkeiten, die jeweils grösser sind, als die Unendlichkeit davor. Aber das hat dann nichts mehr mit den natürlichen Zahlen zu tun, von denen Boucsein ausgegangen ist. Und dieser unheimlichen Unendlichkeitshierarchie, die ich eben erwähnt habe, misstrauen die Konstruktivisten und Intuitionalisten ohnehin!
In seinem Artikel Warum die Mathematik keine ontologische Grundlegung braucht –
Wittgenstein und die axiomatische Methode geht Simon Friederich auf die Behauptung Wittgensteins ein, dass mathematische Erkenntnisse und Sätze normativen Charakter haben, ähnlich wie Strassenverkehrsregeln. Haben Sie ein Problem mit der Regel, stets rechts zu fahren? Fragen Sie danach, woher diese Regel stammt und ob sie auch in einer weit entfernten Zivilistaion gilt? Warum ist die Regeln für Sie denn bindend? Klar, weil Sie sonst eine Busse erhalten. Das unterscheidet die Strassenverkehrsregeln von den mathematischen Gesetzen. Aber Sie halten die Rechtsfahrregel vor allem deshalb ein, weil Sie ein vitales Interesse daran haben, dass alle die Regel einhalten und Sie dadurch heil nach hause kommen. Das ist in der Mathematik genauso. Dank der Tatsache, dass sich alle u.a. an den Satz des Pythagoras halten, kann man kreativ neue mathematische Tatsachen ergründen und verargumentieren. Ein neuer mathematischer Lehrsatz, der bewiesen ist, ist einfach so. Er ist normativ und braucht keine „Heimatadresse“.
Ist der Strukturrealismus das Beste aus den beiden Welten?
In einem grossen Teil seines Artikels geht Boucsein auf den Strukturrealismus ein, den er als „very best of both worlds“ bezeichnet. Welchen Welten? Der mathematische Strukturalismus scheint im Moment so ewtas wie der State of the (metamathematical) Art zu sein.
Die Internet Encyclopedia of Philosophy (iep) macht in ihrem Artikel über den Mathematischen Strukturalismus folgendes Beispiel für ein System:
Let us define a system to be collection of objects together with certain relations on those objects. For example, an extended family is a system of people under certain blood and marital relations—father, aunt, great niece, son-in-law, and so forth.
Offensichtlich ist hier von einer relationalen Datenbank die Rede. Stammbaumdatenbanken sind nicht ganz einfach, aber schauen wir uns das einmal an! Es werden Vater, Tante, Grossnichte (oder Grossneffe) und Schwiegersohn genannt. Die Familie könnte somit so aussehen:
Fritz und Emma sind die Eltern von Hans und Elsa, die unverheiratet blieb. Hans und Frieda sind die Eltern von Ruth und mir. Damit ist Elsa meine Tante. Nicola ist der Sohn von Ruth und somit mein Neffe und der Grossneffe von Elsa. Rahel ist meine Tochter und hat den Sebulon geheiratet, der somit mein Schwiegersohn ist.
Die Grafik ist schön übersichtlich, aber wenig formal. Damit Computer die Daten in einer Datenbank bereitstellen können, müssen wir die Zusammenhänge formalisieren, z.B. in Tabellen.
Pers-ID | Name | ist KindvonMutter | Ist TeilvonPaar |
1 | Fritz | 1 | |
2 | Emma | 1 | |
3 | Hans | 2 | 2 |
4 | Frieda | 2 | |
5 | Elsa | 2 | |
6 | Ruth | 4 | |
7 | Nicola | 6 | |
8 | Ich | 4 | 3 |
9 | Nina | 3 | |
10 | Rahel | 9 | 4 |
11 | Sebulon | 4 |
Da der Stammbaum bei Fritz beginnt, sind seine Eltern nicht bekannt oder sie können zwar benannt werden, sind aber nicht Mitglied der Personenliste.
Auch Sebulons Eltern tauchen hier nicht auf.
Paar-ID | Paar-Name | Pers-ID-1 | Pers-ID-2 |
1 | R-S | 1 | 2 |
2 | R-T | 3 | 4 |
3 | R-U | 8 | 9 |
4 | W-R | 11 | 10 |
Es gibt also 4 Paare. Ich habe angenommen, die Familie heisse väterlicherseits R, anverheiratete Frauen heissen S, T und U. Der Vater von Nicole sei nicht bekannt, also bildet Ruth auch kein Paar. Sebulon habe den Familienname W, so dass das Paar Rahel/Sebulon den Familiennamen W-R trägt.
Hier sieht man eine Schwierigkeit, die sich durch die Konvention ergibt, dass der Familienname derjenige des Mannes ist. Diese Konvention hat sich zwar längst aufgeweicht. Allerdings ist dadurch die Namensgebung uneinheitlich und muss jedesmal festgelegt werden. Das spielt hier aber keine Rolle.
Nicht allen Personen kann ein Paar zugeordnet werden, was auf eine partielle Funktion hinausläuft. Das ist etwas diffizil, kann jedoch mit etwas Aufwand dennoch sauber definiert werden.
Wir können den Sachverhalt, den die Tabellen ausdrücken, auch grafisch darstellen (etwas vereinfacht):
Ein solches Schema wird von den Philosophen Struktur genannt. Mathematiker bezeichnen es als (Basis-)Kategorie, die sauber definiert wird und in einen bestimmten axiomatischen Rahmen gestellt ist. Ich habe Kategorien bereits in Was haben Rentner, Fussballspieler und Informatiker gemeinsam? erwähnt.
Während die Struktur allgemein gültig ist, bezeichnen die Philosophen jede Instanz davon, also jede Anwendung des Schemas auf eine bestimmte Familie, als System. In unserem Fall ist jede Sammlung von Personen und Paaren eine Menge. Somit besteht ein (Familien-)System aus einer Menge von Personen und einer Menge von Paaren. Für jeden Stammbaum, also für jede Instanz der Tabellen, sind die beiden Mengen – die Menge der Personen und die Menge der Paare – anders zusammengesetzt. Mathematiker sagen, eine Stammbauminstanz sei ein Funktor von der Basiskategorie in die Kategorie der Mengen.
Datenbankstrukturen sind angewandte Kategorientheorie, wie Brendan Fong und David I. Spivak hier demonstrieren.
Mathematiker fragen sich, woher die philosophischen Begriffe Struktur und System kommen und wo sie „wohnen“, während Philosophen genau dieselben Fragen über Kategorien stellen. Geoffrey Hellman hat 2003 in Does Category Theory Provide A Framework For Mathematical Structuralism? behauptet,
that these theories require a background logic of relations and substantive assumptions addressing mathematical existence of categories themselves.
Zum Glück gab Steve Awoday An Answer to Hellmans Question: Does Category Theory Provide A Framework For Mathematical Structuralism?, nämlich: Yes, of course!
Kategorien sind in der Mathematik streng definiert und axiomatisiert und stellen so etwas wie eine grobe Heimadresse für Begriffe und Strukturen dar. Jedes mathematische Objekt, das etwas von sich hält, ist Objekt einer Kategorie. Wenn Sie also einen Kaubel in der Kategorie der Busmels verorten können, dann ist die Existenz des Kaubels bloss schon dadurch gesichert. (Kaubel und Busmel sind Phantasienamen für irgendetwas).
Zum Schluss des lesenswerten Artikels gibt Boucsein eine Art Ausblick auf verschiedene neuere Strömungen. So erwähnt er auch die Typentheorie, meint aber, diese sei bloss eine Art Neuauflage von Platons Ideen. Ich kann zum Beispiel mit dem Typ der natürlichen Zahlen die Unendlichkeit umschiffen, denn ich brauche nicht alle natürlichen Zahlen zu kennen. Es genügt, wenn ich ihre Eigenschaften genau kenne. Von einer Ersetzung der Platonschen Idee kann nicht die Rede sein. Typen sind etwas ganz Handfestes!
Ich habe nicht begriffen, was der mathematische Strukturalismus zur Frage der Ontologie mathematischer Begriffe beitragen kann oder was er sonst für einen Zweck hat. Er erscheint mir als verklausulierte Kategorientheorie, die „Struktur“ und „System“ perfekt definiert und anwendet. Ich kann auch nicht erkennen, dass der Strukturalismus eine Weiterentwicklung des Dialogs zwischen Platonikern und Intuitionalisten oder zwischen Formalisten und Konstruktivisten ist.
P.S. Dieser Beitrag wurde als Gastbeitrag im Blog philosophies veröffentlicht. Lesen Sie dort die sehr interessanten Kommentare!