General Christian Freuding: „Wir sind bereit für den Fight tonight“

Herr General, Sie sind nun der erste Soldat des deutschen Heeres. Wo liegen Ihre Prioritäten?

Meine Prioritäten liegen erstens in der Einsatzbereitschaft. Wir müssen die Einsatzbereitschaft des Heeres auf dem Weg zur Kriegstüchtigkeit weiter erhöhen. Jeder Tag zählt, und wir haben wenig Zeit. Der Feind wartet nicht auf unsere Fertigmeldung. Die zweite Priorität gilt dem Aufwuchs. Wir müssen wachsen, dafür schafft der Gesetzgeber mit dem neuen Wehrdienstgesetz Voraussetzungen. Dritte Priorität ist für mich Innovation. Die Technologiesprünge, die wir im Krieg Russlands gegen die Ukraine beobachten, müssen wir auch für unser Heer nutzbar machen. Innovation hat eine völlig neue Bedeutung für Landstreitkräfte gewonnen. Ich will, dass wir diese Innovation von unten leben. Innovationen entstehen nach meiner Überzeugung immer da, wo taktische Führer – also Zugführer, Kompaniechefs – ein taktisches Problem zu lösen haben und dann die Lösung dafür finden. Der vierte Aspekt ist eine Führungskultur im Heer, die klar werteorientiert ist, bei der jeder Soldat für unsere freiheitliche Ordnung einsteht, sie als Grundverständnis begreift und nach außen vertritt. Eine Führungskultur, die durch das Beispiel und die Hingabe der Vorgesetzten wirkt.

Wie viele Brigaden des Heeres sind heute bereit zu einem hochintensiven Gefecht ?

Natürlich sind wir bereit, für den „Fight tonight“, also den unmittelbaren Kampf. Aber wir wissen sehr wohl auch, dass wir im gesamten Heer noch Defizite haben, personelle und materielle. Wir befähigen gerade die Panzergrenadierbrigade 37, die bestmöglich ausgestattet im Auftrag der NATO zu den Truppen mit sehr kurzer Vorwarnzeit für den raschen Einsatz zählt. Das ist aber nicht genug. Wir brauchen im gesamten Heer die Fähigkeit, im Gefecht nicht nur zu bestehen, sondern uns auch durchzusetzen, zu gewinnen. Da haben wir noch eine Strecke zu gehen.

Kommen wir zur 10. Panzerdivision mit ihren 20.000 Soldaten. Diese Division wurde 2025 der NATO als einsatzbereit gemeldet. Aber es fehlen ihr Flugabwehr und anderes Gerät. Wieso?

Dreißig Jahre De-Investment drehen Sie nicht in drei, vier Jahren um. Für die 10. Panzerdivision haben wir Material und Personal auch von anderen Einheiten zusammengezogen. Heute ist sie im Rahmen des Machbaren bestmöglich personell und materiell ausgestattet. Die Defizite im Bereich Flugabwehr bestehen, ich blicke da durchaus auch kritisch auf die Zulieferzahlen und -zeiten. Ich halte das persönlich nicht für ausreichend, um uns der Bedrohungslage entsprechend ausstatten zu können. Daher suchen wir nach Alternativen, um uns für den „Fight tonight“ und die Zeit bis 2029 besser aufzustellen. Da ist noch was zu tun.

Bereits seit 2014 steht im Mittelpunkt jeder Ertüchtigung die Digitalisierung der Landstreitkräfte. Dennoch wird heute im­mer noch analog gefunkt. Kann der neue Mann an der Spitze das ändern?

Also einer an der Spitze kann das nicht allein ändern. Das Heer will diese Digitalisierung, das Heer braucht diese Digitalisierung. Das ist ein Technologiesprung von vier Jahrzehnten. Wir drehen an jeder nur denkbaren Stellschraube von sehr komplexen technischen Zusammenhängen, weil wir den Erfolg dieses Projekts wollen. Wir sind aber auch davon abhängig, in welcher Qualität und Geschwindigkeit die Industrie liefert. Ich habe mit allen Verantwortlichen darüber gesprochen, damit wir möglichst schnell die noch vorhandenen Defizite beheben. Das geht nur im Team, Hand in Hand. Und das Heer tut alles dafür, dass wir Fortschritte erzielen.

Die Bundeswehr muss nach den NATO-Vorgaben in den nächsten neun Jahren um 80.000 aktive Soldaten wachsen. Die Koalition hat aber für 2026 einen Aufwuchs von nur 1750 Soldaten festgelegt. Wenn das so weitergeht, erreicht die Bun­deswehr das Ziel in 45 Jahren.

Wir haben jetzt erst mal den Einstieg in den Aufwuchs geschafft. Wir wissen, was wir brauchen, sie haben den Korridor von 260.000 bis 270.000 Soldaten angesprochen. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten auch innerhalb der Streitkräfte festlegen, wie wir die militä­rischen Fähigkeiten gemeinsam so entwickeln werden, dass es ein stimmiges und erfolgreiches Gesamtpaket gibt. Als Heer haben wir natürlich klare Vorstellungen davon, was wir brauchen.

Minister Pistorius sagt, die Bundeswehr sei in einer besseren Verfassung, als der Berichterstattung zu entnehmen sei. Wo könnte man das besonders gut erleben?

Ich erlebe das, wenn ich bei der Truppe bin. In den Brigaden, in den Verbänden, wo mit Hingabe die Einsatzbereitschaft gesteigert wird, wo Männer und Frauen mit viel Ideenreichtum, Phantasie und größtem Einsatz auf die Kriegstüchtigkeit ihres Zuges, ihrer Kompanie, ihres Bataillons hinarbeiten. Ich sehe das in der Bewertung unserer Verbände bei großen internationalen Übungen. Da zeigen sich Einsatzfreude und professionelles Können, da zeigt sich Innovationsdenken, und da zeigt sich, dass alle daran arbeiten, wirklich kriegstüchtig zu sein und abschreckungsfähig zu werden.

Sie haben den Krieg in der Ukraine lange aus nächster Nähe beobachtet. Was meinen Sie, wie kann die Ukraine gewinnen?

Das wird man wohl erst ex post bewerten können. Auf der einen Seite haben die Ukrainer bewiesen, dass sie sich gegen die russischen Streitkräfte, die in aller Regel über Masse wirken, durch Innovation erfolgreich verteidigen können. Gleichwohl ist der Krieg vom Grundcharakter her zum Abnutzungskrieg geworden. Die Durchhaltefähigkeit wird am Ende eine entscheidende Rolle spielen. Die hängt ganz wesentlich von den weiteren Ukrainehilfen sowie militärischen Unter­stützungsleistungen Deutschlands und von den anderen Partnern ab. Und hier dürfen wir nicht nachlassen und müssen die ukrainischen Streitkräfte weiter nach Kräften bestmöglich unterstützen.

Nennt vier Prioritäten: Christian Freuding
Nennt vier Prioritäten: Christian FreudingOmer Messinger

Manche sagen, Russland komme in der Ukraine kaum voran, folglich sei es auch zu einem Angriff auf die NATO nicht in der Lage. Was meinen Sie dazu?

Wir sehen in Russland Kriegswirtschaft mit hohen Produktionszahlen an Munition und Großgerät. Depots werden aufgefüllt, und Russland entwickelt Nachbauten ausländischer Waffen weiter, zum Beispiel in der Drohnenfertigung. Die gab es vor dem Krieg noch fast gar nicht, und jetzt kann Russland Drohnen in Masse und hoher Qualität herstellen. Zudem wachsen die russischen Streitkräfte trotz erheblicher Verluste weiter auf, die Gliederung der Militärbezirke, vor allem im Westen, wird angepasst. Die Russen werten ihre Ge­fechtserfahrungen aus und setzen sie in Doktrin, in der Ausbildung um. Insofern warne ich alle, die glauben, dass die russischen Streitkräfte nicht dazulernen können. Ich glaube, ein russischer Krieg gegen NATO-Streitkräfte würde vollkommen anders verlaufen als der gegen die Ukraine. Die Fähigkeiten der NATO, zum Beispiel mit Landstreitkräften in der Tiefe zu wirken, aber auch in den Domänen Luft, See, Cyber, sind völlig andere als die der mit beeindruckender Tapferkeit kämpfenden Ukrainer. Der Krieg in der Ukraine ist keine Blaupause für eine Auseinandersetzung zwischen Russland und der NATO.

Panzer, Schützenpanzer oder Haubitzen spielen in der Ukraine nur noch eine sehr eingeschränkte Rolle. Wäre das anders, wenn Russland die NATO angreift?

Diese Waffensysteme würden eine grö­ßere Rolle spielen, weil sie in der Kriegsführung, auf die wir uns vorbereiten, von Luftwaffe und Luftverteidigung geschützt würden. So wären wir zu beweglicher Kriegsführung fähig. In der Ukraine sehen wir einen erstarrten Krieg, der sich nur sehr langsam von Todeszone zu Todeszone bewegt. Wir dagegen könnten die Vorteile beweglicher Operationsführung nutzen.

Unlängst hatten wir einen Angriff von etwa 20 Drohnen auf Polen. Und wir wissen, dass Russland jetzt schon Hunderte zugleich starten könnte. Könnten wir Drohnenschwärme, wie die Ukraine sie jede Nacht erlebt, heute abwehren?

Wir könnten das. Die Frage ist nur, ob wir das mit dem, was uns derzeit zur Ver­fügung stünde, auch effizient erreichen könnten oder ob wir Mittel einsetzen müssten, die auf lange Dauer unsere Durchhaltefähigkeit vor Herausforderungen stellen würden. Insofern ist es bedeutsam, dass wir Wirkmittel entwickeln, die auch effizient sind. Eine der großen Fragen unserer Zeit ist die nach der Ökonomie des Krieges. Die stellt sich völlig neu: Was sind die Kosten für welchen Effekt? Wir müssen im Hinblick auf unsere Durchhaltefähigkeit lernen, anders zu denken und auch anders zu rüsten.

Dieser Krieg ist so blutig, wie keiner in Europa seit 1945. Hat ihre Beobachtung von zehntausendfachem Tod ihre Haltung zu ihrem Beruf verändert?

Meine Eindrücke aus der Ukraine haben mein Bewusstsein von dem, was dieser Beruf in letzter Konsequenz bedeutet, nicht grundlegend verändert, aber sie haben mir noch einmal präsenter gemacht, welche Verantwortung wir dafür tragen, dass es nie zu einer solchen Situation kommt. Was in der Ukraine passiert, muss uns noch mehr anspornen, durch Abschreckung Frieden zu bewahren.

Spricht man im Heer über das, was die Ukraine jeden Tag erlebt? Über die Abschiede der Soldaten von ihren Familien? Man sieht das ja in der Ukraine an jedem Bahnhof. Wenn Paare sich umarmen, wissen sie: Es ist vielleicht das letzte Mal.

Das spielt eine Rolle in unserer Ausbildung und Erziehung, aber da finden Ausbildung und Erziehung auch Grenzen. Das ist präsent, und wir setzen im Heer bereits in der Basisausbildung viel mehr auf psychologische Begleitung unserer jungen Soldatinnen und Soldaten, um Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Aber die Erfahrung der Wirklichkeit werden wir nie erreichen können. Mir ist daher wichtig, die Erfahrungen der Ukrainer viel stärker in unsere Ausbildung einfließen zu lassen. Ich habe mit meinem ukrainischen Amtskollegen verabredet, dass wir Veteranen nach Deutschland bringen wollen. Soldaten, die dann an unseren Truppenschulen, wo unsere Offizieranwärter und Un­ter­offiziere ausgebildet werden, berichten können, wie der Krieg geführt wird und was er bedeuten kann. Und diese Erfahrungen sollen dann durch ukrainische Ausbilder auch in der praktischen Ausbildung ihren Niederschlag finden.

Früher hieß es: Süß und ehrenvoll ist der Tod fürs Vaterland. Dann gab es den Missbrauch des „Heldentodes“ im Dritten Reich. Hat das Heer ein Konzept für den tödlichen Aspekt des Soldatenberufs?

Das sind unglaublich schwere Fragen. Meine Antwort ist: Es geht darum, durch Kriegführen-Können, durch Krieggewinnen-Wollen Krieg zu verhindern. Es ist unsere Freiheit, die wir zu bewahren und zu verteidigen haben. Es gibt keine größere Aufgabe. Alles dafür einzusetzen, das ist Freiheit.