
Spätestens seit der Großinvasion der Ukraine hat sich Russland wie nie zuvor an seinen großen Nachbarn China gebunden. Xi Jinpings Autokratie ist der wichtigste Käufer russischer Energieexporte, die Milliarden in die Staatskasse spülen und den Ukrainekrieg finanzieren.
China liefert Technologien, die zuvor westliche Partner lieferten, China hilft bei der Umgehung der Sanktionen. Mit keinem anderen ausländischen Staatschef pflegt Wladimir Putin demonstrativ eine so enge Beziehung wie mit seinem „lieben Freund“ Xi Jinping, der mit ihm zuletzt als wichtigster Gast auf dem Roten Platz zu sehen war – bei der Parade anlässlich des Jahrestags des sowjetischen Sieges über Nazi-Deutschland.
Putins Geheimdienste teilen nicht unbedingt dessen Begeisterung. Ein der „New York Times“ zugespielter Geheimbericht, den westliche Geheimdienste für authentisch halten, skizziert ein Spionageabwehr-Programm des FSB unter dem Codenamen „Entente-4“, das sich explizit gegen China richtet.
Besonders hebt der russische Inlandsgeheimdienst das Risiko hervor, das für Russland von durch China angeworbene Spitzenbeamten, Unternehmern und Wissenschaftlern ausgeht. Das Interesse der Chinesen gelte besonders der russischen Drohnenproduktion und der Verteidigung gegen westliche Waffensysteme.
Für sich allein betrachtet ließe sich leicht an der Echtheit des Dokuments zweifeln, schließlich setzt Russland spätestens seit der Krim-Annexion 2014 und der ersten Eiszeit mit dem Westen zunehmend auf Zusammenarbeit mit China. Doch dass Chinas Top-Ingenieure offenbar mehr von russischen Kollegen erfahren wollen, als diese preisgeben dürfen, ist vielfach belegt.
Fälle von Forschern, die wegen Spionage für China verurteilt werden, gibt es in Russland seit den 1990er-Jahren. Immer wieder trifft es Wissenschaftler aus dem Umfeld der russischen Raumfahrt-, Luftfahrt- und Rüstungsindustrie.
Ein Forscher aus St. Petersburg, Nowosibirsk oder Moskau hat Geheiminformationen über die russische Interkontinentalrakete „Bulawa“, Landesonden von Roscosmos oder den Schutz russischer Raumschiffe vor Sonnenstrahlung an China weitergegeben – etwa so klingen die Fälle der vergangenen Jahre. Die russische Zeitung „Kommersant“ hat vorgerechnet, dass zwischen 1997 und 2019 mindestens 14 Personen wegen Spionage für China verurteilt wurden.
Häufig stehen dabei Vorwürfe im Raum, die Fälle seien fabriziert. Schließlich wacht der Inlandsgeheimdienst FSB über alle Formen von universitärer und akademischer internationaler Kooperation, wenn Wissenschaftler mit Zugang zu Geheiminformationen involviert sind. Bei Auslandsreisen werden Forscher von Agenten begleitet. Jede Publikation wird vorher vom FSB geprüft und abgesegnet.
In dieser Logik wäre jeder Spionagefall zugleich ein Versagen der Geheimdienstler. Die Kritiker – zu denen auch exilierte Kenner der russischen Dienste wie Andrei Soldatov und Irina Borogan gehören – sehen eine andere Logik am Werk. Forscher kann man leicht zu Sündenböcken erklären und dabei die Statistik der eigenen Ermittlungserfolge hochtreiben, obendrein dank der Verschärfung der Gesetze zu Landesverrat und Spionage in den vergangenen Jahren.
Kreml spielt die Fälle herunter
Umso verblüffender ist aber, dass mehrere solcher Spionagefälle erst nach Russlands Großinvasion der Ukraine bekannt wurden – in einer Zeit also, in der die russischen Geheimdienste fast täglich neue vorgebliche Landesverrats- oder Spionagefälle publik machen. Der Feind dabei: Ukraine.
Die Spionageabwehr des FSB hätte es nicht nötig, die Statistik mit politisch brisanten fingierten Fällen zu verbessern, die das idyllische Bild der neuen Brüderlichkeit zwischen Moskau und Peking stören. Der Kreml jedenfalls redet die Fälle klein. Vor zwei Jahren sagte Putins Sprecher Dmitri Peskow lediglich, man solle „keine Schlüsse über irgendwelche Tendenzen“ in den China-Spionagefällen suchen.
Dabei häufen sie sich. Allein in Sibiriens Technologiezentren wie Nowosibirsk oder Tomsk gab es zwischen 2022 und 2024 insgesamt fünf Fälle. Die Verurteilungen wegen Spionage im Auftrag Chinas könnten also einen realen Hintergrund haben, oder zumindest eine Botschaft an den Kreml von der radikalsten Fraktion der russischen Geheimdienste sein. Nach dem Motto: Die politische Führung soll nicht vergessen, dass die „historische Partnerschaft“ mit China auch Risiken birgt.
In den russischen Sicherheitseliten sehen viele die neue Freundschaft mit China kritisch. Nach Jahrzehnten der chinesisch-sowjetischen Spaltung, die beide Länder in den 1960er-Jahren an den Rand des Krieges führte, ist das kaum verwunderlich.
Tod im Gefängniskrankenhaus
Wie brutal der FSB vorgehen kann, um Chinas Spionage zu belegen, zeigt die Strafverfolgung von Dmitri Kolker im Sommer 2022. Der Physiker aus Nowosibirsk forschte unter anderem zu militärischen Anwendungen von Quantenoptik und entwickelte Lasersensoren für Giftstoffe, die in Drohnen eingesetzt werden können.
Der Vorwurf lautete: Landesverrat wegen Weitergabe von Geheiminformationen während einer Vorlesungsreihe in China. Der 54-Jährige litt zum Zeitpunkt seiner Festnahme an Bauchspeicheldrüsenkrebs im vierten Stadium. Trotz Protesten seiner Ärzte wurde Kolker für transportfähig erklärt und aus einer Klinik in Nowosibirsk nach Moskau gebracht, wo er vier Tage später in einem Gefängniskrankenhaus starb.
Das letzte bislang bekannt gewordene Kapitel der Jagd der FSB nach chinesischen Spionen ist die Verurteilung von Anton Klimkin. Der Wissenschaftler aus Tomsk forschte über Lidar-Technologie und kooperierte im Rahmen eines russisch-chinesischen Forschungszentrums mit Kollegen aus der südostchinesischen Stadt Hefei.
Klimkin bekam nach einem Prozess im Juni 2024 wegen „geheimer Zusammenarbeit mit einer ausländischen Organisation“ zweieinhalb Jahre Haft. Sein chinesischer Doktorand wurde Berichten zufolge zunächst festgenommen, durfte aber Russland ungehindert verlassen.
Neue Fahndungserfolge des FSB gegen chinesische Spionage wurden seitdem nicht öffentlich – vielleicht weil keine erzielt wurden. Eine andere mögliche Erklärung: Der Kreml wollte „keine Tendenz“ der chinesischen Spionage in Russland sehen, also darf sie nicht publik werden.
Pavel Lokshin ist Russland-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2017 über Russland, die Ukraine und den postsowjetischen Raum.