Geflüchtete berichten: So gelingt ihnen die Integration

Omid Ahadi aus Afghanistan berät Versicherungskunden

Omid Ahadi, vor 28 Jahren in Kabul geboren, ist eine Karriere in Deutschland nicht unbedingt in die Wiege gelegt worden. Schon als Fünfjähriger fing er an, als Schuh- und Fensterputzer zu arbeiten, um seine Familie zu unterstützen. Für seine Schulbildung fehlte trotzdem das nötige Geld. Wenn er sich damals über die Schuhe der Geschäftsleute beugte, um sie zu polieren, hatte er ein Ziel vor Augen: irgendwann in einem Beruf zu arbeiten, in dem man Anzüge trägt, erinnert er sich heute.

Als er vor zehn Jahren sein Heimatland verließ, konnte er weder lesen noch schreiben. Seine Eltern sahen keine Zukunft in Afghanistan für ihn und schickten ihn auf die gefährliche Reise zu seiner Schwester, die mit ihrem Mann bereits in Deutschland lebte. Eine Prüfung für den Achtzehnjährigen: Zu Fuß durchquerte er mit einem Freund Iran und die Türkei, landete auf einem überfüllten Schlepperboot auf dem Mittelmeer.

Er musste rittlings auf der Bootskante sitzen, ein Bein im Wasser, acht Stunden lang: „Ich dachte, wir schaffen das nicht.“ Vom rettenden Ufer in Griechenland wurden sie direkt ins berüchtigte Flüchtlingslager Moria gebracht. Ihm wurde ein Schlafsack gegeben. Schlafen musste er im Freien auf dem Boden. „Ich wurde damals oft geschlagen. Ich wünschte, ich hätte diese Zeit nicht erlebt.“

Nach sechs endlosen Wochen durfte er nach Deutschland weiterreisen. Eine einsame Zeit sei es anfangs gewesen. Auch, weil er die Sprache noch nicht beherrschte. „Man weiß ja nie, worüber die Leute lachen.“ Er wollte lernen, verstehen und nutzte dafür jede Gelegenheit. In einer Übergangsunterkunft in Frankfurt, einer Sporthalle im Gutleutviertel, freundete er sich mit dem Securitypersonal an und ließ sich, so oft er konnte, von ihnen die nächsten Vokabel beibringen. „Ich habe damals seitenweise das gleiche Wort aufgeschrieben: Tisch oder Tasse.“ Nur, um das Schreiben zu üben.

Sein Engagement ist überdurchschnittlich, aber ihm standen in Deutschland auch tatkräftige Helfer zur Seite: Berater des Jugendmigrationsdienstes, die ihn auf Unterstützungsangebote hinwiesen, Sprachkurse vermittelten und ihn während des Realschulbesuchs begleiteten. Ahadi arbeitete danach zunächst in einem Altenheim, in einem Kindergarten, für die Kirche. Aber er sah nirgends Aufstiegsmöglichkeiten. Als er sich bei der Versicherungsgesellschaft Allianz vorgestellt hatte, bekam er schon am nächsten Tag die Zusage für einen Ausbildungsplatz: „Da hatte ich das Gefühl, dass ich jetzt wirklich dazugehöre“, sagt Ahadi.

Kollegen halfen ihm während seiner Ausbildung, Fachwissen und gleichzeitig seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Seit Januar hat er den Abschluss in der Tasche und wurde von seinem Arbeitgeber unbefristet übernommen. Heute berät der Kaufmann für Versicherungen und Finanzwesen in der Allianz-Zen­trale am Main meist Kunden am Telefon und trägt – bei Bedarf – einen Anzug.

Emad Saaid leitet Bäckereifilialen
Emad Saaid leitet BäckereifilialenLando Hass

Syrer Emad Saaid leitet Bäckerfilialen

Religion, sagt Emad Saaid, ist etwas Privates. Der Syrer ist Alewit und hat seine Jugendliebe Khulud, eine Sunnitin, geheiratet. Doch im syrischen Bürgerkrieg nach 2011, befeuert durch Gegensätze zwischen den Religionsgemeinschaften, geriet die Familie immer mehr in Bedrängnis. Im Jahr 2015 wagten die Eheleute mit ihren zwei kleinen Söhnen die Flucht. Zweimal, erinnert sich Saaid, brachen sie mit einem Boot von der türkischen Küste aus auf, beide Male gerieten sie in Seenot und wurden von der Küstenwache zurückgebracht. Beim dritten Mal entschieden sie schweren Herzens, dass es der Vater alleine versuchen sollte, die Mutter kehrte mit den Söhnen nach Syrien zurück.

Am 27. September 2015, das Datum vergisst Emad Saaid nicht, kam er am Frankfurter Hauptbahnhof an. Er wurde von einer Notunterkunft zur nächsten gereicht und lernte vor allem eines: zu warten. Warten auf Bescheide, warten auf Gespräche mit jenen Stellen, die über seinen Asylantrag befinden würden. Das sei so zermürbend gewesen, die aussichtslose Trennung von seiner Familie, dass er fast in seine kriegsgefährliche Heimat zurückkehren wollte, erzählt er. Zwei ehrenamtliche Helferinnen besorgten ihm schließlich einen Anwalt, und vier Jahre nach seiner Ankunft durfte er seine Frau und seine beiden Söhne, die da schon sieben und zehn Jahre alt waren, nachholen.

Mehrere Jahre lebte die Familie in Übergangsunterkünften der Stadt, die von der Caritas und dem Arbeiter-Samariter-Bund betreut wurden. Die Sozialberatung in den Häusern half unter anderem beim Aufenthaltstitel, bei der Suche nach Kitaplätzen, bei der Arbeits- und Wohnungssuche. Mittlerweile hat die Familie eine Wohnung in Langen gefunden, wo sie bereits seit ein paar Jahren lebt. Vergleichbares in Frankfurt wäre für sie unbezahlbar.

Sobald er durfte, hat der gelernte Konditor in Deutschland gearbeitet: erst als Küchenhilfe in einem Restaurant, dann fand er 2017 eine Anstellung bei Bäcker Eifler. Für Deutschkurse blieb ihm keine Zeit, aber die Arbeit sei ein guter Lehrmeister, sagt er. Mit einer kurzen Unterbrechung, als er von einer Selbständigkeit mit einer eigenen Konditorei mit französischen und syrischen Spezialitäten träumte, aber an den gesetzlichen Hürden scheiterte, blieb er dem Unternehmen treu.

Das honorierte seine Loyalität und seinen Einsatz, indem sie Saaid Anfang 2023 eine Filiale am oberen Ende der Berger Straße in Frankfurt-Bornheim anvertrauten. Zusammen mit seinem Bruder Alaa, der ebenfalls in Frankfurt Fuß fasste, übernahm er im Juni noch eine zweite Bäckereifiliale. Sein ältester Sohn Jafaar arbeitet am Samstag ebenfalls hinter der Theke, sonst büffelt er in der 11. Klasse und ist auf dem Weg zu einem guten Abitur: Er würde gerne Medizin oder Jura studieren, erzählt er.

In Saaids Bäckerei arbeiten Menschen aus aller Welt zusammen: Christen, Juden, Muslime – für den Syrer, den die Religionszugehörigkeit aus seiner Heimat vertrieben hat, bleibt Religion etwas Privates, das nicht trennen muss.

Jiya Kapoor
Jiya KapoorLando Hass

Jiya Kapoor managt im Quartier und in der Arztpraxis

Als Jiya Kapoor vor 22 Jahren in Kabul geboren wurde, hatte der Westen noch Hoffnung, die radikalen Islamisten in Afghanistan in Schach halten zu können. Heute ist die Hauptstadt fest im Griff der Taliban. In den unruhigen Zeiten dazwischen, vor zehn Jahren, verließ die Familie Kapoor ihre Heimat, weil die Eltern ihren beiden Kindern ermöglichen wollten, ihre Zukunft selbst zu gestalten. „In Afghanistan hätte ich keine Perspektiven gehabt, als Frau hätte ich Burka tragen müssen, hätte das Haus nicht allein verlassen dürfen“, sagt Jiya Kapoor. In Deutschland sieht sie dagegen Chancen für sich, und sie schätzt die Meinungsfreiheit. Ihren Eltern, afghanischen Hindus, ist sie dankbar für deren Entschluss, das Land zu verlassen – auch wenn das zunächst Unsicherheit für die ganze Familie bedeutete.

In Frankfurt wirklich anzukommen, dabei hat Jiya Kapoor auch der Jugendmigrationsdienst geholfen. Die Mitarbeiter dort sind Lotsen und Vermittler für verschiedene Unterstützungsangebote, aber auch Ansprechpartner bei allen möglichen Problemen, die junge Menschen bei der Ankunft haben können. Nicht allen gelingt die Inte­gration so leicht wie der jungen Frau aus Afghanistan. Ihr Sprachtalent – sie beherrscht heute Hindi, Urdu, Panjabi, Englisch, Französisch und Deutsch – hat ihr manches erleichtert.

Was ihr leicht fällt, setzt sie nutzbringend für andere an: Für ihre Eltern übersetzt sie Behördenbriefe, begleitet sie zu Terminen. Sie liebe es, anderen zu helfen, sagt sie nur schlicht dazu. Während der Corona-Zeit wurde sie in Höchst von einer Quartiersmanagerin der Caritas angesprochen, ob sie nicht beim Taschengeldprojekt mitarbeiten wolle. Dabei können Jugendliche kleine, gemeinnützige Tätigkeiten übernehmen und bekommen dafür ein kleines Taschengeld. Das bietet insbesondere zugewanderten jungen Menschen die Chance, soziale und Arbeitserfahrungen zu sammeln. Mittlerweile führt Jiya Kapoor selbst ein Team junger Leute an, die unter ihrer Anleitung Informationen an Haushalte verteilen oder bei Veranstaltungen im Viertel aushelfen.

Dass sie hier lernen und weiterkommen kann, weiß sie zu nutzen. Nach ihrem Realschulabschluss hat sie in diesem Jahr eine Ausbildung als medizinische Fachangestellte abgeschlossen, danach eine Weiterbildung im Praxismanagement gemacht, um ihren Aufgabenbereich in einer Augenarztpraxis in Höchst erweitern zu können. Die nächste Herausforderung? Den Führerschein würde sie gerne machen. Eine Lieblingsautomarke hat sie auch schon ins Auge gefasst. Ein BMW würde ihr gut gefallen. Denn Ziele kann man nie genug haben.

Nabila Al Hussein will Pharmazie studieren

Nabila Al Hussein hat mit ihren 22 Jahren schon mehr erlebt, als ihr lieb war. Ihre Familie floh vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Erst der Vater und die älteren Brüder, 2016 folgte sie ihnen zusammen mit ihrer Mutter. Bevor die beiden Frauen Aleppo verlassen konnten, erlebten sie dort einen Raketenangriff. Ein Wort, das man hier nur aus den Nachrichten kennt. Ein Grauen, wenn man dort in einem Keller sitzt. Ihre Mutter und sie hätten den Vater von dort aus angerufen, bereit, sich für immer zu verabschieden. „Ich stand schon vier- oder fünfmal vor dem Tod. Danach nimmt man viele Dinge nicht mehr so ernst wie vorher“, sagt die junge Frau. Die Erfahrung des Krieges habe sie stärker gemacht, ihr eine andere Sicht auf das Leben gegeben: „Seitdem gibt es für mich nur Anfänge.“

Etwa mit einer ganz neuen Sprache. Ihr Vater hatte seinen Kindern gepredigt: „Ihr habt hier eine Chance – nutzt sie. Ihr müsst hier die Sprache lernen.“ Also hat sie mit ihrer jüngeren Schwestern Kinderserien im Fernsehen geschaut, Vokabeltraining der einfachen Art. Lange bevor eine Intensivklasse sie auf den Schulbesuch vorbereitet hat. In Frankfurt war der Jugendmigrationsdienst eine feste Anlaufstelle für Nabila. Dorthin können sich Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund im Alter zwischen zwölf und 27 Jahren wenden, die Antworten auf Fragen zu Schule und Ausbildung, Aufenthaltsrecht oder Sprachkursen suchen oder die persönliche Probleme besprechen wollen.

Auch das Mädchenbüro Milena in Bockenheim wurde für Nabila zu einem Fixpunkt. „Dort habe ich mehr gelernt als in der Schule“, sagt sie lachend und meint all das, was nicht in einem Stundenplan steht, aber für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft wichtig ist.

Nach dem Realschulabschluss fand sie zunächst keine Ausbildung, über den Jugendmigrationsdienst erfuhr sie von der Bernd-Blindow-Schule in Mannheim, wo sie eine Ausbildung zur pharmazeutisch-technischen Assistentin erfolgreich abschließen konnte. Ihr Vater hat sie auch bei der Berufswahl unterstützt. Er ist ihr eine wichtige Stütze: „Es ist immer gut, wenn man jemanden hat, der an einen glaubt. Jeder braucht Wertschätzung“, sagt die junge Frau.

In einer Apotheke am Frankfurter Berg hat Nabila Al Hussein eine Anstellung gefunden. Die Rückmeldungen sind positiv, die Kunden loben ihre Beratung und Freundlichkeit. Sie hat aber auch in Einzelfällen Zurückweisung erfahren von Menschen, die sich nicht von einer Frau mit Kopftuch bedienen lassen wollen. „Was habe ich denjenigen getan, die mich nicht kennen?“ fragt sie, ratlos über dieses Verhalten. Am Arbeitsplatz nimmt sie sich in diesen Situationen zurück und bittet einen Kollegen, den Kunden zu bedienen, „damit wir von Anfang an ein Problem verhindern können“. Und fügt mit einem entwaffnenden Lächeln hinzu: „Vielleicht haben sie ja nur schlechte Laune.“ Obwohl sie heute den deutschen Pass hat und dankbar ist für alles, was ihr hier ermöglicht wurde, fühlt sie aufgrund solcher Erlebnisse, „dass wir hier immer fremd bleiben werden, egal, wie lange wir hier sind“.

Beratung ist oft entscheidend

Integration braucht Begleitung, Beratung, Unterstützung, wenn sie Erfolge zeigen soll. Der Bund gibt Millionenbeträge für Integrationskurse aus, in denen Neuankömmlinge vor allem die Sprache lernen sollen, aber auch mit der Rechtsordnung, Geschichte, Kultur und den Werten in Deutschland vertraut gemacht werden. Darüber hinaus ergeben sich aber viele individuelle Anliegen: Wohnungs- und Arbeitssuche, Anerkennung ausländischer Abschlüsse, Krankenversicherung, Kita- und Hortsuche, Termine bei der Ausländerbehörde.

Die Hilfe beginnt mit der Sozialberatung in der Flüchtlingsunterkunft. Der Bund finanziert auch den Jugendmigrationsdienst – für Menschen zwischen zwölf und 26 Jahren – sowie die Migrations­beratung für alle anderen Erwachsenen. Obwohl Beratung wichtig ist, wollte der Bund zunächst vom kommenden Jahr an die Mittel unter anderem für Deutschkurse deutlich kürzen. Verschiedene Träger der Kurse hatten dagegen protestiert und darauf hingewiesen, dass sich dadurch die Integration verzögern werde.

Im November hat der Bundestag doch noch höhere Mittel im Haushaltsausschuss für das laufende und das kommende Jahr bewilligt. Damit stehen im nächsten Jahr insgesamt rund 1,06 Milliarden Euro zur Verfügung, etwa genauso viel wie im Vorjahr.