Gedenkjahr für Umm Kulthum in Ägypten: Auch die Nächte gehören ihr

Wenn man gegenwärtig auf den wuseligen Straßen Kairos unterwegs ist, kommt man um eine Frau nicht herum: Umm Kulthum. Die Künstlerin, deren Todestag sich 2025 zum 50. Mal jährt, ist auch Dekaden nach ihrem Ableben sehr präsent und tief in das ägyptische Alltagsleben eingeschrieben.

Um den Status der Sängerin in Worte zu fassen, die in einer singulären sechzigjährigen Karriere die arabische Welt durch ihre Musik einte, hilft ein Blick auf ihren Kosenamen „Die vierte Pyramide Ägyptens“. Das lässt den Einfluss der Sängerin erahnen.

Da überrascht es nicht, dass das ägyptische Kulturministerium vor Kurzem 2025 zum „Jahr von Umm Kulthum“ erklärte. „Wir wollen ihren Spirit als künstlerisches und kulturelles Phänomen wiederbeleben“, schreibt Kulturminister Ahmed Hanno in einer Pressmitteilung und erläutert ein breit gefächertes Programm.

Vermächtnis in Playlists

Die Kairoer Buchmesse widmete Umm Kulthum bereits eine Sektion und in den kommenden Monaten stehen Konzerte, Workshops, Filmvorführungen und Seminare im ganzen Land an. Außerdem sollen in einem von der Kairoer Oper ausgerichteten Wettbewerb neue Gesangstalente gekürt werden. Auch der im Nahen Osten führende Strea­ming­dienst Anghami fährt aktuell eine Kampagne, um Umm Kulthums Vermächtnis mit Playlists, exklusiven Konzertmitschnitten und einer Archivseite digital lebendig zu halten.

Wundersam klingt ihre tiefe Altstimme, die so durchdringend war, dass die Künstlerin bei ihren vom Radio übertragenen Konzerten mehrere Meter entfernt vom Mikrofon positioniert werden musste. Kul­thums Gesang wirkte emotional, sodass Seufzer und ihr stockender Atem quasi spürbar wurden.

Eine Stimme, die die Ägyp­te­r:In­nen auch heute noch berührt. So tönt Umm Kul­thums Gesang wie zu Lebzeiten aus den Musikanlagen von Geschäften und aus den Taxiradios auf den Straßen Kairos. Die circa 300 von ihr aufgenommenen Stücke für Orchester und Gesang, die von arabischen Dichtern und Komponisten in Auftragswerken für Umm Kul­thum kreiert wurden, drehen sich größtenteils um die Liebe und das Land.

Leicht abgewandelt

Dass sie sich auf der Bühne von ihren Gefühlen leiten ließ, Strophen mehrfach und leicht abgewandelt in neuen Melodien wiederholte, improvisierte und dabei auf das Publikum einging, hat sich bis in die Gegenwart als Merkmal ihrer Konzerte erhalten. Es ist einer der Gründe, warum manche Stücke von Umm Kul­thum sogar die Stundenmarke überschritten.

Auch ihre Erscheinung war markant. Auf Graffiti in den Straßen Kairos entdeckt man neben Gemälden von ägyptischen Fußballstars immer wieder ihr Antlitz, die Augen hinter ihren typischen dicken Sonnengläsern versteckt und das Profil von pompösen Bouffantfrisuren gekennzeichnet. Auch das Tuch, das sie bei Auftritten immer in einer Hand hielt, wurde auf der Insel Zamalek, wo sie wohnte, in einer Skulptur verewigt.

Dass sich Millionen Menschen im arabischen Raum bis heute mit ihr spirituell verbunden fühlen, liegt aber an Umm Kul­thums Lebenslauf. Sie gab sich als eine von ihnen aus. Anfang des 20. Jahrhunderts, vermutlich 1904, wurde sie als Fatima Ibrahim al-Baltagi in Tamay al-Zahayrah geboren.

Wandersänger am Nildelta

Sie war Tochter eines Imams und einer Hausfrau und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Weil ihr Vater in dem Dorf am Nildelta das Einkommen als Wandersänger aufstockte, kam Umm Kul­thum schon früh mit melodiösen Koranzitationen in Berührung.

Geschult im Tadschwid, der korrekten Buchstabenaussprache, ahmte sie die Melodien nach und ließ ihr Gesangstalent erahnen. Obwohl die geistlichen Lieder traditionell nur von Sängern vorgetragen wurden, nahm ihr Vater sie bei Auftritten mit und merkte, wie talentiert sein Kind war.

„Die Vorstellung, dass seine Tochter vor Männern singen sollte, die er nicht kannte, war schwer für meinen Vater zu akzeptieren, aber mein Gesang half, die Familie zu ernähren“, hört man die Gedanken der Sängerin dazu in dem Dokumentarfilm „Umm Kul­thum: A Voice like Egypt“.

Größere Bühnen

Ihr Vater war es auch, der ihr den Künstlerinnennamen in Anlehnung an die dritte Tochter des islamischen Propheten Mohammed gab. Während sich ihr Talent herumsprach und Umm Kul­thum Aufträge für größere Bühnen bekam, zog ihre Familie Anfang der 1920er Jahre nach Kairo, wo sich ihre Erfolge fortsetzten.

Nach dem Tod des Vaters 1931 begann sie für die damals neuen Medien Rundfunk und Film zu arbeiten und für Konzerte auch in die Nachbarländer zu reisen. Die monatliche Rundfunkübertragung ihrer Konzerte am ersten Donnerstag eines Monats wurde schließlich zum Event, das der ganze arabische Raum vor den Radios lauschend verfolgte.

Umm Kul­thums politisches Engagement gehört in Ägypten zur Folklore. Noch bevor er die ägyptische Revolution 1952 anführte, war Umm Kul­thum mit dem späteren Präsidenten Gamal Abdel Nasser befreundet. Zu der Zeit wurden ihre Werke patriotischer und politischer, was die Bewegung des Panarabismus prägte, der nicht nur auf Ägyptens Unabhängigkeit zielte, sondern als Sonderform des arabischen Nationalismus ein Gefühl für eine arabische Kulturnation mit den umliegenden Ländern umfasst.

Dass Umm Kul­thum nach dem verlorenen Sechstagekrieg im Juni 1967 eigentlich anonym für die Unterstützung des besiegten ägyptischen Heeres Geld spendete, wurde zu einem Wendepunkt im Land und entwickelte sich zum wahrscheinlich größten Fundraiser in der ägyptischen Geschichte.

Mit ihrer spontan organisierten Konzerttournee durchs ganze Land sammelte Umm Kul­thum nicht nur Spenden in Millionenhöhe, sondern auch Kilos von Gold. Sie verstand ihre Rolle als „Influencerin“ in einer vulnerablen Dekade ihres Landes und trug maßgeblich dazu bei, die hoffnungslose Stimmung nach dem Krieg entscheidend zu beeinflussen.

Dass sie ihre zwei Pariser Konzerte wegen der Fundraisingtour verschob und auch ihre Gage aus Frankreich spendete, rechnen ihr die Ägypter bis heute hoch an. So gilt Umm Kul­thum nicht nur als Ausnahmesängerin, sondern auch als politisch engagierte Künstlerin. Da überrascht es nicht, dass auch die Nächte ihr gehören. Schaltet man in Kairo nach 23 Uhr den Radiosender Al Aghani an, hört man nur sie. Bis heute wird dort täglich bis in die Morgenstunden ausschließlich Musik von Umm Kul­thum gespielt.