Fußball-Fan-Demo in Leipzig gegen Sicherheitsmaßnahmen im Stadion

Berlin, die Stadt der langen Nächte, schläft am frühen Sonntagmorgen. Leere Straßen, wenig Lärm. Das ändert sich, je näher das Olympiastadion kommt. Autos fahren die Flatowallee hinauf, aus der S-Bahn steigen junge Männer und Frauen und versammeln sich auf dem Olympischen Platz. Gut dreihundert sind es gegen 8 Uhr, fast alle tragen ein Bekleidungsstück, das sie als Anhänger von Hertha BSC ausweist. Jacken, Schals, Aufnäher. Viele von ihnen waren am Tag zuvor bei der Jahreshauptversammlung ihres Klubs, nicht mal 24 Stunden später steht die nächste Mission an.

Um Hertha geht es an diesem Tag aber nur am Rande. Der in die zweite Liga abgestürzte Traditionsklub trägt kein Spiel aus. Nicht im Olympiastadion und nicht sonst wo. Es geht ums Große Ganze. Mal wieder.

Die organisierten Fanszenen Deutschlands haben zur Demonstration nach Leipzig geladen und die Herthaner folgen. Genau wie Unterstützer des 1. FC Union Berlin, die zeitgleich im Südosten der Stadt aufbrechen. Dazu Fans von Dynamo Dresden, Bayern München, Hansa Rostock und vielen mehr.

Aus allen Teilen Deutschlands reisen Vertreter an. Sie alle machen sich an diesem grauen Novembermorgen auf in die Stadt, in der die deutsche Nationalmannschaft an diesem Montag (20.45 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur WM-Qualifikation und im ZDF) gegen die Slowakei spielt, um dort gemeinsam, wie es in einem offiziellen Schreiben der Fanszenen heißt, „gegen den aktuellen Sicherheitswahn der Innenminister aufzutreten“. Weiter steht dort: „Die Fanszenen Deutschlands kritisieren die geplanten Maßnahmen der Innenministerien als überzogen und einseitig. Sie bemängeln, dass Fußballfans zunehmend pauschal als Sicherheitsrisiko behandelt werden, obwohl Stadionbesuche zu den sichersten Großveranstaltungen zählen.“

Auch Fans von Hertha BSC protestieren in Leipzig.
Auch Fans von Hertha BSC protestieren in Leipzig.Reuters

Anfang Dezember wollen die Innenminister der Länder in Bremen zusammenkommen. Dort sollen schärfere Sicherheitsmaßnahmen rund um Fußballspiele diskutiert werden. Wie die konkret aussehen, ist nicht bekannt. Zuletzt war aber zu hören, dass personalisierte Tickets diskutiert werden könnten, eine generelle Verschärfung der Stadionverbotsrichtlinien und die Erfassung von Zuschauern mittels Künstlicher Intelligenz.

„Warum jetzt? Warum sollen solche Maßnahmen in einer Zeit diskutiert werden, in der immer mehr Zuschauer in die Stadien kommen und es im Gegenzug immer weniger Verletzte gibt?“, fragt Robert Kreisel. Der 41 Jahre alte Berliner mit den ersten grauen Bartstoppeln begleitet Hertha BSC Woche für Woche, als Vorsänger steht er in der Ostkurve des Olympiastadions.

„Es geht um unsere Kultur“

Seine Argumente stützt er auf Zahlen. Laut dem Jahresbericht der Zentralen Informationsstellen Sporteinsätze (ZIS) der nordrhein-westfälischen Polizei wurden in der vergangenen Saison 1107 Menschen im Zusammenhang mit Spielen der Bundesliga, der zweiten Bundesliga und der dritten Liga der Männer verletzt. Das bedeutet einen Rückgang um rund 17 Prozent zum Jahr davor. Gleichzeitig stieg die Besucherzahl um knapp vier Prozent.

Kreisel ist nicht nur ein Mann der Zahlen, sondern ein besonders aktives Mitglied der Berliner Fanszene. Einer, der sich kümmert, der organisiert und Planungen mitgestaltet. Manchmal bis spät in die Nacht. Dass er und viele andere Berliner in Leipzig dabei sind, stand für ihn nie zur Debatte. „Es geht um unsere Kultur, um dieses bunte Erlebnis Fußball“, sagt er.

So wie Kreisel denken viele aktive Fans. Sie trägt das Gefühl, mit ihrer kritischen Haltung und dem Hang zur Mitbestimmung vielen Politikern und Funktionären ein Dorn im Auge zu sein. Aus ihrer Sicht sollen sie weichen für ein reines Eventpublikum, das konsumiert, aber keine unbequemen Fragen stellt. „Die Verbindung zum eigenen Verein, das Prinzip der Teilhabe, die 50 plus 1 Regel, all das macht den Fußball in Deutschland aus und einzigartig. Die geplanten Maßnahmen der Politik würden vieles von dem verschwinden lassen, weil sie sich gegen Personengruppen richten, die für dieses Stadionbild mitverantwortlich sind“, sagt Kreisel.

Wer an diesem Morgen in Leipzig auf Stimmenfang geht, hört immer wieder das Wort „Hinterzimmerdeals“. „Fans werden nicht in Entscheidungsprozesse mit einbezogen“, sagt eine junge Frau mit roten Haaren, die findet, dass ihr Name nichts zur Sache tut. Die strenge Geheimhaltung seitens der politischen Arbeitsgruppen nennt sie „unter demokratischen Gesichtspunkten mindestens fragwürdig“.

Statistiken zum Rückgang der Gewalt sind das eine, tatsächlich dokumentierte Auseinandersetzungen das andere. Anfang des Jahres war es in Hamburg zu Ausschreitungen gekommen, als Fans des HSV Anhänger des 1. FC Köln attackieren und verletzten. Hamburgs Innensenator Andy Grote sagte danach: „Es zeigt wieder einmal, dass der Fußball ein Gewaltproblem hat.“

Grote gehört zu den Politikern, die ein härteres Vorgehen gegen gewaltbereite Fußballfans fordern. Stadionverbote seien aus seiner Sicht in der Vergangenheit nicht konsequent genug durch die Vereine durchgesetzt worden. Daher auch die Idee einer zentralen Stadionverbotskommission. Geht gar nicht, finden die Demonstranten in Leipzig. Weil dann alle Fans pauschal in eine Ecke gedrängt werden und es keine Differenzierung mehr gibt zwischen tatsächlichen Gewalttätern und denen, die ihre Mannschaft stimmungsvoll anfeuern wollen. Was zur Stimmung betragen soll, ist auch ein Diskussionspunkt. Pyrotechnik abschaffen oder legalisieren, die ewige Debatte.

Differenzen gilt es zu überwinden

Der aus ihrer Sicht ungerechten Pauschalisierung begegnen die Demonstranten in Leipzig mit Einigkeit. Fanszenen, die sich während der Spiele verbale und manchmal daneben auch körperliche Auseinandersetzungen liefern oder in der Vergangenheit geliefert haben, laufen Seite an Seite durch die Straßen. Robert Kreisel und die Herthaner treffen unter anderem auf Fans von Dynamo Dresden. Man versteht sich, man kennt sich.

Die persönlichen Bekanntschaften führender Fanvertreter stehen konträr zu den Bildern, die vor wenigen Wochen aus dem Olympiastadion kamen. Polizei, Wasserwerfer und Fangruppen, die auf dem Oberrang versuchten, aufeinander loszugehen. Am Ende sprach die Polizei von 53 Festnahmen und 35 Strafanzeigen, auch wenn die Einsatzkräfte bei 76.000 Besuchern ein positives Fazit zogen.

In Leipzig geht es in der Goethestraße nahe des Hauptbahnhofs los. Das Hotel der Nationalmannschaft liegt in unmittelbarer Nähe. Die Route führt durchs Zentrum, vorbei an Passanten, bewacht von etlichen Polizisten, Hubschrauber kreisen. Laut Polizeiangaben waren etwa 8000 Anhänger von 38 Klubs dabei.

Vom Dachverband der Fanhilfen hieß es, es seien mehr als 20.000 Fans von über 50 Vereinen gewesen. Nach ersten Meldungen am Sonntagnachmittag blieb es friedlich, obwohl nicht jeder mit jedem gleich gut kann. Differenzen gilt es zu überwinden, für die gemeinsame Sache, da sind sich alle Demonstranten einig. An diesem Sonntag ist das gelungen. Weitere Aktionen sollen in den nächsten Wochen folgen.

Robert Kreisel und die Herthaner brechen am Nachmittag wieder nach Berlin auf. Es war ein langes Wochenende und ein langer Tag. Am Montag wartet die Arbeit. Und auf Robert Kreisel, den Sozialpädagogen, seine Kinder.